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Schlaflos in der Unterstadt

■ Seitenwechsel: „Frères“ von Olivier Dahan (Panorama)

Aus der Sicht der Jugendlichen in den Pariser Vororten verläuft die Grenze ihrer Stadt unentwegt vor der eigenen Nase entlang. Nächtelang sind sie in kleinen Grüppchen mit dem Auto unterwegs, und wetzen dabei doch nur das Reifenprofil auf den Ringstraßen ab. Hinein ins Zentrum gelangen sie nie. Stattdessen sehen die Klinkerfassaden der Schlafsilos, in die sie am Morgen zurückkehren, jedes Mal ein wenig verwaschener aus, wie hastig vom Blut gesäuberte Schlachthöfe vor der nächsten Ladung Vieh. Nur die Graffitis bleiben an den Wänden stehen, damit nicht alles einander gleicht – soweit sozial ist der Wohnungsbau.

In Olivier Dahans „Frères“ werden sehr viele Geschichten erzählt von denen, die es einmal auf der anderen Seite versuchen wollten: Ein Rasta kam bis zur Bastille, dealte und landete im Knast. Heute rappt er in einer Raggamuffin-Band und will mit seinen Texten die anderen Kids von den Dingen abhalten, die er ihnen noch vor fünf Jahren vorgelebt hätte.

Auch „Frères“ versteht sich als eine Abendschule im sozialen Off: Eingerahmt durch schwarzweiß flimmernde Interview-Blöcke mit straffällig gewordenen Teenagern zeichnet der Film nach, wie innerhalb von 24 Stunden ein kleiner Unschuldsengel namens Zac sein Leben verwirkt. Mehr aus Versehen erschießt der Junge im Handgemenge einen Araber, der zur verfeindeten Gang gehört.

Der Rest ist ein Weg, der an Neighbourhood-Parties, Junkies und ersten zarten Liebeleien vorbei schleppend in Spiralen nach unten führt. Zac geistert angstgeschüttelt durch immergleiche Viertel, während ihm Funkenmariechen hoffnungsvoll schimmernd im Regen erscheinen. Seine heroinsüchtige Schwester möchte mit ihm nach Süden fliehen und landet doch wieder bei dem, der ihr den Stoff besorgt. Mit 15 sieht die Welt für sie schon sehr mechanisch aus. Wenn sie anschaffen muß, arbeiten ihre Finger am fremden Hosenschlitz gleichgültig und routinemäßig, nicht anders als es sonst brave Töchter ihres Alters zuhause am Abwaschbecken tun.

Je hölzerner die Handlung dem monotonen Straßenrealismus von Jugendgangs im Ghetto nachstellt, desto mehr berühren einen die Szenen, in denen die echten Verlierer ihre Wünsche beschreiben: Der franco-algerische Möchtegern-Koch etwa, der von seiner eigenen Imbißkette und einem Mercedes für seine Herzensdame träumt. Dann weichen die Bilder nicht von seinem Gesicht, und warten manchmal für Sekunden noch auf einen Nachsatz, auch wenn nur ein schüchternes Lächeln kommt. Und dann? Das Leben ist erst am Ende zu Ende. hf

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