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Einsperren nützt gar nichts

■ Hibbelige Kinder drehen sich und ihre Familien durch die Mangel - es gibt Auswege

Hibbelige Kinder drehen sich und ihre Familien durch die Mangel – es gibt Auswege

Der Sproß hört nicht zu, bringt nichts zu Ende, baut einen Unfall nach dem anderen. Aber auf hyperaktiv lautet dennoch keine der 530 Diagnosen, die im Kinderzentrum in der Friedrich-Karl-Straße jährlich gestellt werden. Auch dann nicht, wenn Eltern und Kinder schon kurz vor dem Durchdrehen sind. „Die Hyperaktivität ist ja nur ein Symptom“, sagt der Kinderarzt Peter Lauber.

Im Kinderzentrum, einer unabhängigen Ambulanz der Sankt-Jürgen-Klinik, geht man deshalb vor allem den Ursachen für die störende Unruhe, Zerstreutheit oder Agressivität der Kinder auf den Grund. „Die Kinder werden überwiesen, wenn der Fall dem niedergelassenen Arzt als zu verknäuelt erscheint“, sagt Ambulanz-Chef Lauber. „In einer kassenärztlichen Praxis kann man Feinstörungen selten so gründlich prüfen wie hier“. Das gründliche Check-Up durch das medizinisch-psychologische Team aber ist Voraussetzung für Heilung.

Eine Störung der Wahrnehmungsverarbeitung könnte vorliegen: Wenn der Gleichgewichtssinn aus dem Lot ist, gleichen Kinder das unbewußt durch umso mehr Bewegung aus. Oder die Umwelt kann schuld sein: Manchen großen Kinderkummer, den Umzug oder die Trennung der Eltern, strampeln die Kleinen sich buchstäblich vom Leibe. Auch der Familienalltag kann Kinder verrückt machen, sagt Robert Bodammer, einer von vier PsychologInnen der sozialpädriatischen Beratungsstelle, die jährlich gut 100 hibbeligen Kindern, 80 davon Jungen, hilft.

Egal, was die Ursachen für Unruhe und Sprunghaftigkeit sind – mit den Folgen leben Erwachsene und Kinder gleichermaßen schlecht. Zwar holen die Kleinen sich über ihr nervöses Gehopse unbewußt, was sie brauchen: Sie gleichen Überforderung durch Bewegung und Hektik aus. Doch ihre innere Unruhe raubt ihnen viele Chancen, die Welt zu verstehen. „Die Kinder schrauben die Ansprüche von alleine runter“, sagt Bodammer. Derweil verzweifeln die Eltern darüber, daß ihr Kind „nie zuhört“. Damit ist der nächste Streß vorprogrammiert...

Wer ins Kinderzentrum kommt, hat vorher meist alles versucht – zum Beispiel Disziplinierungsmaßnahmen aus der Grabbelkiste der Alltagspsychologie. Mitleidsvolle oder verärgerte Zeitgenossen tragen dazu bei; der genervte Nachbar genauso wie die befreundete Mutter, deren Sohn unter den ruppigen Zärtlichkeiten des nervösen Kindes leidet. Da wird Kaffee als altes Hausmittel gegeben. Oder der kleine Springinsfeld wird eingesperrt – damit er sich beruhigt. Verhärtete Fronten sind oft der einzige Effekt solcher Verzweiflungstaten.

An der Hilflosigkeit setzt die Arbeit des Kinderzentrums oder anderer Einrichtungen an, zu denen das Zentrum überweist (50 Prozent der PatientInnen kommen aus dem Umland). „Sobald das Problem einen Namen hat, sind die Eltern sehr erleichtert“, sagt Lauber. Denn das hilft für den Umgang mit anderen: So wie das eine Kind wegen Diabetes keinen Kuchen essen darf, muß das andere eben auch während der Essenzeiten in Schule oder Kindergarten mal herumspringen dürfen. „Das Problem ist ja, daß die Kinder nicht so akzeptiert werden, wie sie sind.“

Akzeptieren – das müssen auch Eltern erst lernen. Im Kinderzentrum wird so manches Familienleben umgekrempelt. Medikamente oder Diäten gehören dabei nicht zum Programm. Stattdessen muß das Gleichgewicht zwischen Regel und Freiraum erarbeitet werden. Die Familie soll den kindlichen Bewegungsdrang „kultivieren“: „Man muß ihm einen Sinn geben“, sagt Lauber. Dann darf der Zappelphillip beim Mittagessen laufen und Saft und Salz holen. Damit ist allen geholfen.

Aber was wird aus den Kindern, wenn sie groß sind? „Gut durchorganisierte Menschen“, hofft der Mediziner. Das ist das Ziel der Therapie: Überlastung systematisch vermeiden lernen. Eva Rhode

Rat gibt auch der Schulärztliche Dienst (Tel. 361-1511), das Psychologische Institut für Kinder (Tel. 3499247) und die Eltern-Selbsthilfegruppe (352900) des Gesundheitsladens.

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