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Vom Stolz, sein Schicksal zu meistern

Wunderkammer des Mittelstands, dessen Porträtist er war: August Sanders Fotografien im Kunstmuseum Bonn. Wunderkammern anderer, aber verwandter Art in der nahegelegenen Bundeskunsthalle  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Der Titel, den August Sander seinem Lebenswerk geben wollte, täuscht. „Menschen des 20. Jahrhunderts“ sind die von ihm Porträtierten nun gerade nicht. Sie sind begriffen und begreifen sich selbst in ihren ständischen Bezügen. Herkunft und Profession bleiben die entscheidenen Referenzen auch dann, wenn von ihrem Verlust die Rede ist, wie in den selteneren Fotos von Arbeitslosen, „Almosenempfängern“ oder dem überraschendsten seiner Querformate, dem Bild der toten Bäuerin im Westerwald.

Arbeitslose, Blinde, Zwerge, und dazwischen das Bild eines Menschen, das nicht gerade vor Charisma birst: der Fotograf, Sander selbst.

An den seltsamen Entwurf eines „zyklischen“ Gesellschaftsbilds, den Sander empirisch einzulösen versuchte, hält sich auch die jüngste Präsentation seiner Arbeiten in Bonn. Die rheinischen Seltsamkeiten wollen es so, daß die Ausstellung des wohl bekanntesten deutschen und bedeutendsten Kölner Fotografen vor einer PR-Tour nach Moskau und Tokio nun ausgerechnet im Kunstmuseum Bonn gezeigt wird, wo man mit mehr oder weniger Grund triumphiert.

Zu sehen ist ein ansehnlicher Teil des Nachlasses, den eine Kulturstiftung der Sparkasse in Köln mit dem schwachsinnigen Namen „City-Treff“ vom Enkel Gerd Sander erworben hat. Es sind zum großen Teil Fotografien aus August Sanders Labor: Feine Vergrößerungen, deren Graustufen und Verläufe präzise gehandhabt sind. Sander konnte Gesichter, Kleider, Schatten und Hintergründe irgendwie zusammengießen, verdichten und verweben. Die Einheit des einzelnen Bildes ist viel höher zu bewerten als die Einheit des geplanten Werks. Es ist wohl nicht umsonst Fragment geblieben.

August Sander stammt aus einem winzigen Städtchen namens Herdorf im Westerwald, wo die Kleinbauern als Genossenschaftler auch Erz förderten und verhütteten – das Arbeitsjahr wurde zwischen Feld- und Industriearbeit saisonal unterteilt.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg, in dem er Soldat war, hatte er sich mit einem mittelständischen Fotobetrieb im österreichischen Linz etabliert. In der Nachkriegszeit bekommt er in Köln Kontakt mit den „progressiven Malern“, als Patriarch unter Freigeistern, als Handwerksmeister inmitten der revolutionär gestimmten Boheme.

Diese drei Stationen seiner Mittelstandskarriere kennzeichnen sein Bild der Gesellschaft von Weimar, das am Greifbaren orientiert ist – an dem, was Sander begriff. Ulrich Keller, der das Standardwerk vor fünfzehn Jahren publiziert hat, rechnete die Statistik gegen Sanders Entwurf mit 45 Mappen (à 12 Bilder) und kam zu dem Schluß: „Während 15 Millionen Arbeitern 2 Mappen eingeräumt sind und 3,5 Millionen Angestellte über keine einzige verfügen, hält das kaum 2 Millionen starke selbständige und beamtete Bürgertum 18 Mappen, d. h. ca. 40 Prozent der gesamten Bilddokumentation besetzt“, was einer Herleitung gleichkommt: Seine Gesellschaft von Weimar war zur Jahrhundertwende die Kundschaft gewesen.

Der Rundgang im Kunstmuseum Bonn umfaßt drei Räume, Kuben, die über die Diagonale treppenartig miteinander verbunden sind. Grast man brav die Wände, wie empfohlen wird, im Uhrzeigersinn ab, kommt man mit Sanders groteskem zyklischen Entwurf heraus.

Raum 1: Bauern bis Familien. Raum 2: Berufsporträts von Frauen über Justiz, Militär, Schule bis zu den Komponisten. Raum 3: von ausübenden Musikern bis zum Totenbild. Unglücklich ist wohl die Entscheidung des Museums zu nennen, die vierte Wand des letzten Raums mit Bildern des zerstörten Köln und des heilen Köln zu bestücken, als sei dies der Joker des Mappenwerks.

Die eigentliche Überraschung sind von Sander collagierte „Studien, der Mensch“, zwei sehr strenge Tableaus von den Seitenverhältnissen eines Lesezeichens, aber fast 1,70 Meter hoch. Sie sind für die Ausstellung rekonstruiert worden und zeigen mit verblüffender Lässigkeit zweierlei: Sander meinte sehr viel mehr „den Menschen“ als „die Gesellschaft“. Und: Seine Recherche, die er für die Tableaus verglich, vermaß und verschnitt, war 1935 so gut wie beendet.

Es wird immer wieder spekuliert, was die Nationalsozialisten ihm eigentlich vorzuwerfen hatten. Dafür, daß die Druckstöcke seines bereits erschienenen Porträtbandes „Antlitz der Zeit“ vernichtet wurden, hat August Sander nämlich nie eine Begründung zu sehen bekommen (laut Keller). Ich glaube aber nicht, daß in der latenten Opposition Sanders zu den Nazis der Grund für seine Lähmung lag. Sondern darin, daß ihm die deutsche Gesellschaft in zwei Richtungen davonlief. Sie wurde brachial modernisiert und gleichzeitig in pseudoarchaische Stereotypien zurückgetrieben. Sanders Porträtwerk handelt letztlich vom Stolz, sein Schicksal zu meistern. Wo hätte er diesen Stolz noch finden sollen? Die Serie mit den durchaus überzeugenden Bildern von Nazis ist in Bonn allerdings unterschlagen, da wäre ein Hinweis zu finden gewesen.

Auf Stellwandinseln wird weiteres Material gezeigt, das in populärer Interpretation als Beleg einer „inneren Immigration“ gesehen wird: mittelmäßig neugierige Naturstudien, düster elegische Rheinlandschaften und Idyllen aus dem eigenen Heim, die in der Tat nach Stillstand riechen: das Kuchenfrühstück mit Rotweinflasche vor dem offenen Fenster; die Katze vor dem Kamin.

Die Auswahl ist klein und wirkt wenig systematisch, was nicht verwundert, weil das Werk „wissenschaftlich“ noch nicht aufgearbeitet ist. Welch eloquente Präsentation man einem Werk verschaffen kann, wenn man es wirklich kennt, zeigt Enno Kaufholds Ausstellung der Fotografien Heinrich Zilles in Berlin (bis 26.2.).

Eher arglos war ich in die Bundeskunsthalle gegangen, um einen Blick in die bizarren „Wunderkammern des Abendlandes“ zu werfen. Die Ausstellung tastet sich zurück vom Museum in den Ursprung der Sammlung, als sie noch königlich war (in diesem Beispiel dänisch).

Im Kabinett werden die unvergleichlichen Dinge genauso zusammengebracht – Kuriosa, Exotica – wie die Varianten eines Modells, seien es konservierte Embryos in Gläsern oder penibel aufgestellte Faustfeuerwaffen. Lust auf alles kontra Ordnungswahn, Beispielhaftes kontra Kosmisches. In einem inspirierten Kurzessay des „Wunderkammern“-Katalogs vergleicht Walter Grasskamp „Museum und Enzyklopädie“. Die Enzyklopädie habe sich trotz ihres „fast albern erscheinenden“ Prinzips alphabetischer Ordnung als Wunderkammer zufälliger Nachbarschaft durchgesetzt.

Das Museum aber ist die Alternative der Neugier geblieben, weil es „Motive und Konstellationen noch erahnen läßt, die den unsicheren und tastenden Umgang mit den Dingen und den Worten prägten, bevor er sich wissenschaftlichen Regeln beugte, um allenfalls noch die poetische Abweichung zu dulden“.

August Sander war auf dem Weg ins Museum, aber sein Entwurf war eine Enzyklopädie mit selbstgemachtem Alphabet. Daß man „klarer und eindeutiger“ als er selbst über ihn nicht sprechen könnte, ist ein verzeihlicher Irrtum seines Enkels. Die Forschung, wenn sie über den Rand des Biederen hinausschauen will, sollte August Sander gegen sein Regelwerk begreifen. Es ist seine einzige Chance, dauerhaft im Kunstmuseum Halt zu finden.

August Sander, „In der Photographie gibt es keine ungeklärten Schatten!“ Kunstmuseum Bonn, bis zum 26. März. Katalog, Verlag Ars Nicolai, in der Ausstellung 50 Mark (broschiert), im Buchhandel 68 Mark (gebunden). Gelungene Reproduktionen, keine Texte für große Neugier; Inhaltsverzeichnis fehlt.

Immer noch die wichtigste Quelle: „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Text von Ulrich Keller, 1980. Broschierte Neuausgabe bei Schirmer/ Mosel, 78 Mark

„Wunderkammern des Abendlandes. Museum und Sammlung im Spiegel der Zeit“. Kunst- und Ausstellungshalle Bonn, bis zum 26. Februar. Katalog 42 Mark

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