: Von der Hoffnung in der Hölle
■ „Ein Tag war wie alles, was ihr in eurem Leben erlitten habt“ / Augenzeugenberichte der jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz
Eines der dämonischsten Verbrechen der Nationalsozialisten: die Erfindung und Aufstellung der sogenannten Sonderkommandos in den Vernichtungslagern. Häftlinge der Sonderkommandos, ausschließlich Männer, ausschließlich Juden, mußten die zum Tode Bestimmten in die Gaskammern führen, die Menschen, die ihr Schicksal zu ahnen begannen, beschwichtigen, sie beim Auskleiden zur Eile antreiben. Sie mußten die zurückgelassene Kleidung wegschaffen, die Leichen aus den Gaskammern holen, ihnen Goldzähne ausbrechen und Haaare abschneiden und sie später in Gruben oder Krematorien verbrennen. Sonderkommando – die verhüllende Umschreibung für die erzwungene Kollaboration mit den Mördern.
Was ist der Wille eines Menschen zu überleben, daß zwischen ihm und diesem Grauen nicht mit Sicherheit der freigewählte Tod steht?
Gideon Greif, Jahrgang 1951, Mitarbeiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, hat für sein Buch „Wir weinten tränenlos ...“ sieben Männer interviewt. Sieben ehemalige Häftlinge der Sonderkommandos des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Josef Sackar, Abraham und Shlomo Dragon, Jaacov Gabai, Eliezer Eisenschmidt, Shaul Chasan und Leon Cohen. „Ein Tag war wie alles, was ihr in eurem Leben erlitten habt.“ Sie verdanken ihr Überleben der Tatsache, daß sie den letzten Transporten, die aus Griechenland und Ungarn nach Auschwitz kamen, angehört haben. Ihre Vorgänger bei den Sonderkommandos wurden ermordet, und auch ihnen stand das gleiche Schicksal vor Augen.
Nach ihrem Entkommen mußten alle erfahren, daß das Sprechen über die Beteiligung an der Vernichtung unmöglich war. Zu groß war die Scham über das Erlebte, zu groß war das Mißtrauen, waren die versteckten Schuldzuweisungen der anderen gegenüber den Ehemaligen vom Sonderkommando. Erst zu Beginn der sechziger Jahre, mit dem Eichmann-Prozeß, als sich auch das gesellschaftliche Interesse der inneren Systematik der Vernichtungsmaschinerie zuwandte, begannen viele, ihr Wissen öffentlich zu machen.
Shaul Chasan, Jude aus Saloniki etwa, findet erst durch die Arbeit zu dem Buch die Kraft, sich seinen Verwandten und Freunden mitzuteilen. Was die Männer berichten, ist grauenvoll. Täglich mehrere tausend Menschen, Männer, Frauen und Kinder nackt in den Gaskammern erstickt, in den Öfen und Gruben verbrannt und ihre Asche spurlos beseitigt in fließendem Wasser.
Über ihre erste Begegnung mit dem Grauen erzählt einer der Überlebenden: „Man brachte uns in den Hof, öffnete die Tür des Gebäudes ... Uns wurde schwarz vor Augen... Bis heute habe ich diesen Anblick hinter der geöffneten Tür vor mir. Dort stand die unbekleidete Leiche einer Frau, nach innen gebeugt ... Wir sahen die Leichen in der Gaskammer.“ Die Häftlinge vom Sonderkommando, verantwortlich für die körperlich schwere Arbeit; zeitweise bis zu tausend jüdische Männer gezwungen. Leichen über Leichen, tagein, tagaus, in den Gaskammern ineinander verkeilt, zu trennen, sie über den Boden zu schleifen, Krematorien zu beschicken. „Wir zogen sie auseinander. Mit den Händen, oder ... Es gab Stöcke, mit denen man die Körper ... herauszog ... Sie klebten aneinander ... Man brauchte viel Kraft, um sie herauszuziehen.“ Einer von denen, die sie „Dentisten“ nennen, berichtet: „Bevor die Leichen in die Verbrennungsöfen kamen, mußte ich die Mundhöhlen der Ermordeten untersuchen und ihnen die Goldzähne ziehen ...“
Sie waren privilegiert gegenüber den anderen Häftlingen, versorgt mit ausreichend Nahrung, Alkohol, Zigaretten und warmer Kleidung im Winter.
Die detaillierte Beschreibung der alltäglichen Vorgänge belehrt, daß sich den wenigsten die Frage nach dem Überlebenswillen in dieser Einfachheit stellen konnte. Wir lernen, daß es immer auch Hoffnungen gab, kleinliche, aber menschliche Hoffnungen, die ein Überleben wertvoll machten. Und wir lernen das Unfaßbarste, daß man sich wie an jede Arbeit auch an diese gewöhnte: „Wie konnten Sie in einer derartigen Realität leben?“ „Unfreiwillig lebt man sich in diese Routine ein, und das wird dann ganz normal, als ob so das normale Leben aussähe ...“
Gideon Greif erzwingt so, wie er fragt, selbst angetrieben durch die nicht zu befriedigende Neugier eines Spätgeborenen, die Abkehr von der Verallgemeinerung. Der Autor ist unerbittlich. Was er will, ist eine Projektion, eine detailgetreue Abbildung der Ereignisse auf die Leinwand der Gegenwart. Hierin ist Gideon Greif nicht bloß Chronist, sondern Akteur.
In der erzwungenen Dramaturgie der Antworten entsteht etwas höchst Seltenes: ein Empfinden für die Vielgesichtigkeit, aber auch, um so beängstigender, für die Unausweichlichkeit des Geschehenen. Einmal begonnen, gab es für diese Männer keinen anderen Weg. Marko Rodloff
Gideon Greif, „Wir weinten tränenlos ...“. Böhlau Verlag, Köln/ Weimar/Wien, 1995, 44 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen