: Mäusleinhaft schwere Jugend
■ Irgendwann liegen sie dann natürlich doch übereinander... „Before Sunrise“ von Richard Linklater (Wettbewerb)
Zwei junge Menschen treffen sich im Zug nach Wien. Sie lebt in Paris, er kommt aus Amerika. Beide fahren mit dem Eurorail-Ticket durch Europa. Sie zeigen sich gegenseitig Bücher, die sie gerade lesen, und stellen fest, daß der Restaurant-Service in vielen Ländern schlecht, fremde Sprachen im Ausland dagegen aber sehr wichtig sind. Sie reden über tote Großmütter, liberale Eltern, Menschenkenntnis und Sachverstand und darüber, wie schwer es heute die Jugend hat, sich zu emanzipieren. Zwar hätten sich die vorherigen Generationen immer neue Freiheiten erobert, aber jetzt sei in Jugoslawien Krieg, und das liege doch nur wenige hundert Kilometer von der eigenen Bahnroute entfernt, klagt Celine (Julie Delpy) und wird ein wenig feucht um ihre mäusleinhaften Augen.
Der Amerikaner hat andere Sorgen: Seelenteilung. Am Anfang der Steinzeit gab es eine Million Menschen auf der Erde, jetzt sind es über fünf Milliarden. Wenn sich aber etwas aufs Weltzeitalter umgerechnet so schnell und massenhaft vermehrt, muß da nicht die Seele leiden? Für einen Augenblick wird es still im Zug, selbst die fahrstuhlartige Vivaldi-Beschallung verstummt. Jungsgedanken schwellen kurz vor Wien: Hat der Untergang des Abendlandes auch mein Leben verändert? Werde ich Sex mit der Französin haben?
Jesse (Ethan Hawke) entscheidet sich naturgemäß und also richtig: Statt den Blick zurück hinter die Buchstaben seines schweren Spengler zu senken und der Amour fou Lebewohl zu sagen, bittet er das Mädchen im gebatikten Ballerina-Leibchen einfach, in Wien auszusteigen, um mit ihm dort eine letzte Nacht zu verbringen. Ein Kichern, zwei Blicke und schon stehen die beiden Reisetaschen auf dem Bahnsteig am Südbahnhof. Mit ein bißchen mehr Geld würden sie wahrscheinlich die vierzehn Stunden bis zum Flug in einer Absteige vor sich hin orgasmieren, aber mit 200 Schilling reicht es nur zu zwei Karussellfahrten, einem Friedhofsbesuch und einer Partie Flipper. Nebenbei werden Kirchen, Brunnen und exotische Österreicher im Profil gefilmt, während das Studentenpärchen drauflosredet, als sollte es nachher noch mit André zum Essen gehen. In Wirklichkeit aber liegen sie irgendwann doch auf der Wiesn übereinander, wollen eigentlich nicht, tun es aber trotzdem und sind zum Sonnenaufgang noch pausbäckiger als zuvor. Zurück am Zug verabredet man sich für sechs Monate später, 18 Uhr, wieder in Wien.
Das Ganze erinnert an polnische Tauwetter-Filme der siebziger Jahre, in denen Herzchirurgen auf dem Höhepunkt ihrer Karriere bei Fachkongressen in Rom, Paris oder eben Wien leidenschaftliche Affären mit der Frau eines West- Kollegen anfangen. (Danach sitzen sie für den Rest des Films meist auf Bettkanten herum, rauchen, weinen und lassen sich schließlich Pässe fälschen.) Oder an Simmel. Nur nicht an junge Menschen, Elite-Studenten aus gutem Hause zumal, die sich gebildete Komplimente machen, indem sie einander mit Botticelli-Engeln vergleichen, wo in Wirklichkeit die Geburt der Venus gemeint ist. In einer Szene behauptet Delpy einmal, daß der Feminismus eine Erfindung des Mannes sei, um sich die Frau gefügiger zu machen. Das Modell von Jugend funktioniert bei Linklater ganz ähnlich. Harald Fricke
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