: Und es ist alles wahr
■ Prag, die Kleinseite, der Schmerz: „Rasierklingen“ von Zdeněk Tyc
Ein junger, tschechischer Regisseur: wie sympathisch. Die Region unterhalb der ost- westdeutschen Linie wird, nach Vera Chytilova' oder Jir'i Menzel, zwar nicht mehr als cineastische Peripherie abgetan, aber wohl immer noch nur von Leuten mit „special interest“ zur Kenntnis genommen. Schade, denn dort passiert etwas, wenn auch nicht ganz so flott. Zdeněk Tyc, schlaksig und höchstens dreißig, hat fünf Jahre gebraucht, um Gelder für seinen Film „Žiletky“ aufzutreiben. „Žiletky“ entstand in französischer Koproduktion und beginnt mit den Worten, die Tycs Produktionsfirma den im Tschechischen nicht ganz so umständlichen Namen gaben — „...Und es ist alles wahr“.
Andrej, ein junger Prager Bohemièn, liebt die Christina, verführt aus Unglück eine andere, Vera, trinkt und irrt durch Prag, dort, wo es am wunderbarsten ist. Die Prager Kleinseite und die Gassen um den Altmarkt, Höfe, Treppen, Arkaden leuchtet Tyc ein wenig in expressionistischer Manier aus, selbst Dali läßt von Ferne grüßen. Aber wer wären wir, dem Newcomer das anzulasten — er hat sein Handwerk gelernt. Solange Andrej liebt, ist das Leben bunt, alleingelassen verfällt er in schwarz- weiße Depressionen, und dann muß er zur Armee. Hier beginnt Tycs Film eigentlich.
Schikanen, Andrej wird, wie die anderen Soldaten, vom Menschen zum Stück „Hühnerscheiße“ degradiert. Christina verlangt Unmögliches von dem Mann — er (der Armist!) soll auf der Stelle mit ihr fortgehen. Andrej geht es schlecht, der Winter zieht in sein Herz. In eindeutiger Absicht ersteigt er einen sehr hohen Schornstein, wird gerettet, Psychiatrie. Die ist nicht besser als die Armee, nur eine andere Variante von mißbrauchter Macht.
„Rasierklingen“ ist kein einfacher, auch kein „schöner“ Film. Man merkt ihm an, daß der Regisseur jemanden Empfindsames, vielleicht einen Freund, vielleicht ein Stückchen von sich selbst, erklären und all das vor dem Vergessen retten wollte, was eine dünne Haut ausbluten läßt. Tyc hat auf wahre Begebenheiten zurückgegriffen und offenbar sein ganzes Herz in die Sache gelegt. Die Unausgewogenheit in den Mitteln macht dieses Wissen verständlicher. Lange, unendlich lange hält die Kamera auf den am Schornstein klebenden Andrej, saugt sich in der geschlossenen Abteilung des Krankenhauses fest. Tyc hat recht mit diesem stummen Pathos, hinter dem die pure Härte zum Vorschein kommt.
Auf andere Art klischiert ist die Schönheit von Christina, ihre slawischen Wangenknochen, ihre Locken, ihre Beine — es ist der Kontrast von Realität und Traum im Leben Andrejs. Letztlich macht ihn beides fertig. Das Ende — ein lädiertes Aussteiger-Arkadien, wie es tatsächlich gelebt wird — zeigt einen einsamen Schäfer. Der Film ist es wert. Anke Westphal
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