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Afghanische Taliban auf dem Vormarsch

■ Neue islamistische Miliz Taliban nimmt Hauptquartier Hekmatyars ein

Neu Delhi (taz) – Vor einem Jahr noch hatte niemand von den Taliban gehört, nun stehen sie vor Kabul. Gestern nahm die Miliz der islamistischen Taliban-Kämpfer Scharasjab, das Hauptquartier des Hesb-i-Islami-Führers Gulbuddin Hekmatyar ein, das rund 25 Kilometer südlich der Hauptstadt liegt.

Am kommenden Samstag sollten nach einem Plan des UN-Vermittlers in Afghanistan, Machmud Mestiri, die Regierungsbefugnisse von Präsident Burhanuddin Rabbani auf ein Übergangsgremium übertragen werden. Dies sollte aus neutralen Persönlichkeiten und Vertretern der neuen wichtigsten Mudschaheddin-Gruppen zusammengesetzt werden und allegemeine Wahlen vorbereiten. Mit ihrem Auftreten im Zentrum des afghanischen Bürgerkriegs drohen die Taliban nun den mühsam zusammengeflickten Friedensplan erneut in Frage zu stellen. Dabei ist das Ziel der Taliban dasselbe wie jenes der UNO: die Einheit des Landes wiederherzustellen. Allerdings wollen sie dies im Rahmen der Scharia, des islamischen Gesetzes, tun, und sie wollen es ohne die Mudschaheddin erreichen, da sie diese für den Zerfall des Landes verantwortlich machen.

Die ersten Gruppen von Kämpfern tauchten vor knapp einem Jahr im Südwesten des Landes auf, wo sie die Straße zwischen Kandahar und dem pakistanischen Quetta von Wegelagerern befreiten, die mit Erpressung und Drogen ihr Geld machten. Mit der südlichen Helmand-Provinz als Hauptanbaugebiet und der Hafenstadt Karachi als Hauptumschlagplatz von Opium bildet die Straße nach Pakistan eine der lukrativsten Drogenrouten der Welt. Und aus Pakistan kommen auch die Taliban: Jugendliche und Kriegsveteranen aus afghanischen Flüchtlingslagern, die in Hunderten von „Madrassas“ – Koran-Schulen – in den islamischen Gesetzen erzogen wurden. Doch als nach der Befreiung des Landes statt der Errichtung eines islamischen Staates der Bürgerkrieg mit erneuter Heftigkeit ausbrach, erhielt das Studium, laut Berichten pakistanischer Journalisten, eine immer politischere Komponente. Bald gehörte auch die Waffenhandhabung zur Ausbildung, und zum Gegner wurden immer mehr die Mudschaheddin- Parteien und die Drogenbarone.

Schätzungen über die Stärke der Taliban schwanken zwischen 2.500 und 6.000 Kämpfern. Aber sie verfügen auch über schwere Waffen, und mit ihrem Versprechen einer reinigenden islamischen Kraft erhalten sie die offene Unterstützung der Zivilbevölkerung, die des nicht enden wollenden Krieges müde ist. Bereits im Spätsommer eroberten sie die Stadt Kandahar, kurz danach Lashkar Gah, das Zentrum des afghanischen Drogenanbaus. Dann richteten die Studenten ihre Angriffe gegen Norden, wo ihnen vor kurzem auch die Provinz Ghazni zufiel. Die rasche „Kontrolle“ von nunmehr neun Provinzen scheint allerdings weniger das Resultat einer militärischen Eroberung zu sein als eines Stimmungsumschwungs in den Bevölkerungen und den lokalen Räten, den Shuras. Die Taliban begnügen sich denn auch damit, diese mit ihren Vertretern zu besetzen, ohne daß das militärische Rückgrat der lokalen Kommandanten wirklich gebrochen wird.

Die gute Bewaffnung und Ausbildung der Taliban hat in Indien zu Spekulationen geführt, daß hinter ihnen Pakistans militärischer Geheimdienst ISI steckt. Dieser war früher die Drehscheibe für amerikanische Waffenlieferungen nach Afghanistan gewesen und hatte dabei besonders stark auf Gulbuddin Hekmatyar gesetzt. Als dieser aber nach dem Rückzug der Sowjets seine eigenen Pläne verfolgte, schmolz ihr Einfluß auf ihn. Mit den Taliban könnte der ISI tatsächlich versuchen, die Zukunft Afghanistans nach eigenen strategischen Interessen zu beeinflussen. Außerdem hat Pakistan – mit inzwischen 2.5 Millionen Heroin-Abhängigen – erkannt, daß es den Drogenanbau im Nachbarland härter bekämpfen muß. Bernard Imhasly

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