piwik no script img

Der Züricher Sisyphos und die Süchtigen

■ Eine Chronik zeigt das verzweifelte Hin und Her und die quälend langsamen Lernprozesse beim Kampf der Behörden gegen das Drogenproblem

1967: In Zürich werden zwanzig Personen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz festgenommen.

1968: Die Kantonspolizei beginnt den „Kampf gegen das Rauschgiftwesen“. Mit einem kleinen Demonstrationsköfferchen mit Drogen und Bestecken werden die Beamten mit der Materie vertraut gemacht.

Dezember 1970: Die Stadt eröffnet die erste „psychiatrische Beratungsstelle für Jugend- und Drogenprobleme, das erste „Drop-in“.

1972: Nach einer Studie der Psychiatrischen Universitätsklinik über den Drogenkonsum von 19jährigen im Kanton Zürich haben jede sechste Frau und jeder vierte Mann Erfahrungen mit Drogen. An der Spitze stehen Haschisch und Marihuana. Heroin und Kokain spielen praktisch noch keine Rolle.

1972: Zürich beklagt sein erstes Drogenopfer.

1973: Die größte Dealer-Organisation der Schweiz fliegt auf. Beteiligt sind ausschließlich Schweizer BürgerInnen – beschlagnahmt werden 500 Kilo Haschisch.

1975: Im Frühjahr wird das Betäubungsmittelgesetz revidiert. Jetzt stehen nicht mehr nur Handel und Besitz von Drogen, sondern auch der Konsum unter Strafe.

1975: Die landesweite Statistik erfaßt 35 Drogentote, die Hälfte davon aus Zürich. In der Stadt bilden sich die ersten Szene-Treffpunkte heraus.

1976: Immer öfter taucht in Zürich mit Heroin versetztes Haschisch auf – immer mehr Kiffer steigen um.

1977: Am Hirschenplatz entsteht die erste „offene Drogenszene“.

1978: Der Kanton Zürich bewilligt vier Millionen Franken für eine erste kantonale Drogenklinik.

1979: Allein in Zürich gibt es 29 Drogentote, doppelt so viele wie 1976. Beschlagnahmt werden 13,7 Kilogramm Heroin – sechsmal so viel wie drei Jahre zuvor.

1980: Das Autonome Jugendzentrum (AJZ) wird erstmals geschlossen. Die Drogenszene schließt sich den Auseinandersetzungen der Zürcher Hausbesetzerbewegung mit der Polizei an.

1981: Das AJZ wird wiedereröffnet. Illegal betreibt das Jugendzentrum erstmals einen Fixerraum.

1982: Das AJZ wird erneut von der Polizei geschlossen.

1983: Während in der Schweizer Öffentlichkeit noch rege über Methadon-Programme debattiert wird, weiht die Stadt Zürich die Drogenentgiftungsstation Bombach ein.

1983 bis 1985: Die Polizei löst die lokalen Szene-Treffpunkte immer wieder auf. Die Szene formiert sich immer wieder neu, verfolgt von der Polizei, quer durch die Stadt, an immer neuen Plätzen.

1986: Die Polizei duldet keinen einzigen dauerhaften Treffpunkt – das Zürcher Drogenproblem ist unsichtbar.

1987: Die Odyssee hat ein Ende, die Szene formiert sich auf dem Platzspitz. Die Zeitungen schreiben von dem Treffpunkt sehr schnell nur noch als „Drogenhölle“. Seit Beginn der achtziger Jahre hat sich die Zahl der Heroinabhängigen auf rund viertausend verdreifacht. Die Zahl der jährlichen Drogentoten liegt bei rund 60. Dennoch hält die Polizei ihre „Zerstreuungstaktik“ für einen Erfolg.

1988: Jede zweite Frau und jeder dritte Mann in der Zürcher Drogenszene sind HIV-positiv. Erst 1986, als die Gefahr der Infektion durch gebrauchte Spritzen längst bekannt war, war das Verbot der Spritzenabgabe gefallen. Und erst jetzt fängt die Stadt an, soziale und Gesundheitsprogramme für die Süchtigen anzubieten, die sich nicht mehr ausschließlich an die Ausstiegswilligen richten.

1990: Die Auseinandersetzung um die Drogenpolitik polarisiert sich. Während sich der zuständige Stadtrat für die kontrollierte Drogenabgabe ausspricht, lehnt die Stadt weiterhin Fixerräume ab. Im Oktober sprechen sich 1.400 Beamte der Stadtpolizei offen gegen die Drogenpolitik aus.

1992: Der Platzspitz wird geräumt – erneut beginnt eine ständige Wanderung der Drogenszene durch Zürich, immer verfolgt von der Polizei.

Jahreswende 1992/93: Die Szene sammelt sich am Bahnhof Letten.

1993: Im Kanton Zürich gibt es 94 Drogentote, zwei Drittel davon in der Stadt.

1994: In einer Volksabstimmung sprechen sich die SchweizerInnen für eine Verschärfung der Ausländergesetze aus. Begründung: Die Drogendealer am Letten. Die Stadt beschließt, die offene Drogenszene zu räumen.

1995: Der Letten wird geräumt. In den Schweizer Medien wird diskutiert, was danach kommen soll. Soll die Heroin-Abgabe weitergehend als bisher legalisiert werden?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen