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Die City-Bags der Filmkunst

Die Berlinale ist die Zeit obsessiven Vielsehens. Während allzu lange Stunden, Tage und Abende im Kino das Wahrnehmungs- und Urteilsvermögen durchaus negativ beeinträchtigen können – etwas wird beim massenhaften Visionieren, wie es der Schweizer nennt, überdeutlich: Gewisse Bilder, Szenen oder Stimmen, die, City-Bags oder fröhlichen Designerbrillen gleich, überall wieder auftauchen, lassen sich als Insignien verunglückter Filme erkennen. Auf das Risiko, grandiose Meisterwerke mit dieser Methode zu verpassen oder zu verkennen, habe ich eine kleine Liste mit Erkennungsmerkmalen zusammengestellt, von denen mir jeweils eines zu reichen scheint, um vorzeitig das Kino verlassen zu können bzw. sich den Film erst gar nicht anschauen zu müssen. Erklärt ein Regisseur in der Inhaltsangabe, daß sein Film „mit (verkrusteten) Sehgewohnheiten brechen will“ oder daß sein Werk dieses mit jenem „verwebt“ oder in „ein Spannungsverhältnis“ setzt, dann muß man mit einer unfertigen Spielfilmidee rechnen, deren dramaturgische Hänger zwar bedeutungsschwanger, aber – ohne Beiblatt unverständlich – überbrückt werden. Wenn die Hauptdarstellerin Anna heißt, gilt es in aller Regel, 90 Minuten durchzustehen, in denen eine zur Melancholie neigende, verschlossene Person von Männern mißverstanden wird und in ihrem Elend Zuflucht in der Einsamkeit oder bei ihrer besten Freundin sucht. Happy- Ends verbieten sich quasi automatisch für Annas, allenfalls läuft es auf Partnerschaften und Beziehungsgespräche hinaus. Skepsis ist ebenfalls anzuraten, sobald die leading lady in einem roten Kleid auftaucht, allerdings gibt es viele Fälle, wo sich der Film dann doch wieder fängt. Erst in der Steigerung: rotes Kleid mit schwarzen Strümpfen, Pumps und Tango – eine im neuen deutschen Spielfilm beliebte Kombi als Ikone für entfesselte Leidenschaft – manövriert sich der Film ins sichere Aus. Oft folgt in solchen Filmen auf den Tango eine Sexszene, in der sich das Elend gänzlich enthüllt. Um die mangelnde Fähigkeit, Erotik aufs Celluloid zu bannen, zumindest im Bett nicht sichtbar werden zu lassen, klingelt als „Kunstgriff“ in diesen Filmen meistens das Telefon. In der „soften Variante“ des Dilemmas sieht man statt dessen den schrillenden Wecker am nächsten Morgen in Großaufnahme, bis eine haarige Hand ihn zum Schweigen bringt. Spielt ein Film in Berlin, kann man als Gradmesser für Qualität die Minuten zählen, die die Protagonisten in den öffentlichen Verkehrsmitteln zubringen: Mehr als zehn heißt, der Plot hätte bequem in einen Kurzfilm gepaßt, alles andere hängt bestenfalls noch vom Musikgeschmack der Filmemacher ab.

Leider ist auch das Genre des Dokumentarfilms nicht frei von Eigenschaften, die den Fluchtimpuls auslösen. Beginnt der Film beispielsweise mit einer langen, kontemplativen Einstellung auf das Meer, kann das Folgende kaum mehr frei von Pädagogik sein, die den Zuschauer auf unangenehme Weise in die Rolle des Schülers drängt, der im Kino etwas lernen soll. Ein wirkliches Rätsel gibt mir auch der stahlblaue Hintergrund in Aids-Filmen auf, vor dem die Betroffenen in der Halbtotalen über ihre Gefühle reden müssen: Das Bild ist so unbiquitär und verwechselbar, daß sich ungerechtfertigterweise die vielen dazugehörigen Filme in der Erinnerung ganz und gar vermischen. Zur Abrundung dieser Meckerliste sei noch ein Mensch erwähnt, dessen Stimme mich mittlerweile rasend macht. Christian Brückner, die zu oft gehörte Synchronstimme Robert De Niros, ist zum Kommentarsprecher fast aller ambitionierten Dokumentarfilmer geworden. Vielleicht kann er ja nix dafür, aber demnächst sollte sich jeder Regisseur, der ihn noch einen weiteren Kommentartext sprechen läßt, mindestens zehn Brückner-Dokumentarfilme nonstop angucken müssen... Dorothee Wenner

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