: Ein einfaches Nein mit Folgen
Es war eine Gewissensentscheidung der Laienrichter, nicht länger mit dem Mannheimer Richter Rainer Orlet zusammenzuarbeiten. Ein Schritt, der ihren Alltag verändert. ■ Aus Mannheim Annette Rogalla
Als besonders mutig würde Sara Glaser sich nicht bezeichnen. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Niemals würde sie sich an die Seite eines Richters setzen, der dem NPD- Chef Günter Deckert in seiner schriftlichen Urteilsbegründung „Charakterstärke, tadellose Eigenschaften und einen vorzüglichen persönlichen Eindruck“ bescheinigt hat. „Ich will kein Teil des Apparats werden, ich lasse mich nicht herbeizitieren.“ Das hat Sara Glaser, 28, auch öffentlich erklärt.
Niemand soll die Soziologiestudentin fragen können: Warum hast du da mitgemacht?, und sie müßte antworten: Weil es meine Pflicht war. Zwar hat der Bundesgerichtshof das umstrittene Deckert-Urteil im Dezember 1994 kassiert. Aber Glaser reicht das nicht: „Orlet hat sich bis heute mit seiner Urteilsbegründung nicht öffentlich auseinandergesetzt. Es hat keine Konsequenz für die gesamte Kammer gehabt.“ Das Kollegialpräsidium des Landgerichts hätte zumindest die Richter-Troika voneinander trennen müssen.
Ein „erstklassiger Jurist“
Diese vielfach erhobene Forderung ist für den Gerichtspräsidenten Günter Weber, 58, indes kein Thema. Weber kennt Orlet seit 35 Jahren und hält ihn für einen unpolitischen Menschen und einen „erstklassigen Juristen“. Man könne dies schon daran erkennen, daß das Deckert-Urteil überhaupt das erste von Orlet gewesen sei, welches der BGH in den letzten neun Jahren kassiert habe.
Webers Haltung bestätigt Sara Glaser nur. Sie meint darin ein Muster wiederzuerkennen, das ihr von Auseinandersetzungen mit den Eltern vertraut ist. Als sie zu Hause von ihrem Verweigerungsbrief erzählte und hinzufügte, daß sie nun Angst habe, ebenso bedroht zu werden wie die anderen Schöffen und Schöffinnen, sagte ihre Mutter: „Ich versteh' dich.“ Aber dann „holte sie tief Luft und begann eine Diskussion darüber, ob nicht wirklich nach fünfzig Jahren mal Schluß sein sollte“. Saras Eltern wählen grün – nicht nur weil ihre Tochter dort mitmacht. Angst um die Lebensqualität haben, aber kein Rückgrat – so will Sara nicht sein. Für sie ist der Protestbrief ans Landgericht Ausdruck ihrer Lebenshaltung: „Es hat mich nicht viel gekostet – außer der Angst danach.“
Michaela Clay, wie sie genannt werden will, ist dreiunddreißig Jahre alt und „am Ende“. Nachts kann sie nicht mehr schlafen. Wenn alles still ist, hört sie die Stimmen: „Du linke Drecksau, du Hure. Wir kommen jetzt und holen dich.“ Im selben Moment hört sie es an der Haustür klingeln. Sechs-, sieben-, zehnmal läuft immer derselbe Film ab. Vor zwei Wochen fing alles an, als nachts um halb eins ihr Telefon schrillte und ihr ein anonymer Anrufer „Wir holen dich!“ ins Ohr schnarrte. Direkt danach klingelte es an der Haustür. Noch in der Nacht verließ Clay ihre Wohnung.
Sie wohnt mit ihrem Freund mitten in Mannheim. Vor zwei Jahren wurde sie Schöffin am Landgericht, gewählt über die Vorschlagsliste der Grünen. Anfang dieses Jahres bekam sie die Schöffen-Terminliste. Erste Sitzung: 2. Februar, 9 Uhr, Erste Große Strafkammer. Besetzung: Vorsitzender Dr. Wolfgang Müller, Beisitzerin Elke Folkerts, Berichterstatter Dr. Rainer Orlet. Es wäre ihr wie späte Beihilfe zu dem Skandalurteil erschienen, hätte sie sich zu diesen Richtern an einen Tisch gesetzt. Michalea Clay überlegte: Sollte sie den Schöffinnendienst verweigern? Oder sollte sie unter Protest an den Sitzungen teilnehmen? Ihre Entscheidung traf sie unter dem Eindruck des Gedenktages zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Sie schrieb dem Landgerichtspräsidenten, sie werde nicht mit Orlet arbeiten, weil dieser für die „rechtsstaatliche Grundordnung nicht mehr tragbar“ sei.
Der Vorsitzende der Kammer, Wolfgang Müller, drohte ein Ordnungsgeld an. Clay ging trotzdem nicht zu jener Sitzung. Binnen einer halben Stunde organisierte das Gericht eine Ersatzschöffin. Clays Entschluß war weniger flammende Empörung als ein schlichtes „Mit mir nicht“. Aufgewachsen ist Michaela Clay in einem kleinen Ort im Süddeutschen. Wenn sie mit ihrem Bruder im Zimmer saß und Lieder aus dem „Zupfgeigenhansel“ sang, brüllte der Vater etwas von „linken Kanaillen“ hinauf, die von „drüben gesteuert sind“. Bei Meinungsverschiedenheiten rastete er aus. Früh lernt Michaela, daß es besser ist, still zu sein. Die Eltern zu fragen, wie sie den Faschismus erlebt haben, traut sie sich nicht. Die Großeltern zu fragen, ob sie mitgemacht haben, ist sie zu ängstlich. Ihren Schöffendienst hat sie verweigert, „weil man so schnell vergißt, wie Nazis groß werden können“. Nun fragt sie sich morgens in der Straßenbahn: Wer sitzt da neben mir? Mißtrauisch beobachtet sie, ob ihr jemand nachschleicht.
Überall hat sie Angst
Wenn sie nach Hause kommt, läuft sie planlos in der Wohnung herum. Sie solle sich keine Sorgen machen, hat man ihr bei der Kripo gesagt. Eine Fangschaltung ist gelegt. Schweißgebadet nimmt Michaela Clay den Hörer in die Hand. „Ich kenne mich nicht mehr aus in meinem Leben.“
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine Schöffin sich aus Gewissensgründen geweigert, Berufsrichtern beizusitzen. In Mannheim haben inzwischen zehn SchöffInnen der „Orlet-Kammer“ die Zusammenarbeit aufgekündigt. Den Anfang machte im Dezember letzten Jahres Stanislaus Stepien, 46, der Angehörige in den Konzentrationslagern Auschwitz, Sobibor und Chelmno verloren hat. Die meisten der streikenden Schöffen jedoch wurden durch das Deckert-Urteil nicht in ihrer persönlichen Geschichte getroffen, sondern lehnen die Arbeit mit Orlet aus moralischen oder politischen Gründen ab. Juristen wie Winfried Hassemer (54), Professor für Strafrecht und Strafprozeßrecht, plädieren dafür, sie notfalls zur Richterbank zurück zu zwingen. Obwohl der Jurist die Entscheidung der SchöffInnen „gut verstehen kann“, fürchtet er um die Unabhängigkeit der Justiz, wenn LaienrichterInnen anfangen, BerufsrichterInnen zu boykottieren. Die SchöffInnen, so Hassemer, müßten sich bei den Urteilsberatungen durchsetzen, jeder andere Weg gefährde die Idee einer Justiz, die unabhängig von gesellschaftlichen und politischen Zwängen Recht sprechen solle.
„Hier spricht die Leibstandarte Adolf Hitler.“ Die Stimme habe „eher dem Typ Feldwebel gehört; sie klang so, wie auch der Deckert redet, und das ist nicht die Kategorie dummer Skinhead“. Bernd Oehler hat den Drohanruf mitgeschnitten und das Band zu lokalen Rundfunksendern gebracht. Mehrmals wurde es gesendet. Angst scheint der 42jährige Lokaljournalist nicht zu kennen. „Die können gar nicht mich meinen. Das entspringt doch alles nur dem Gehirn eines Nazis.“ Und mit denen hat er sich schon während seiner Studentenzeit in Heidelberg geprügelt. Daß er Drohungen ausgesetzt sein würde, sobald er seine Verweigerung öffentlich macht, damit hatte er gerechnet.
Bernd Oehler ist einsfünfundneunzig groß und ziemlich kräftig. Äußerlich ist er das Gegenteil von Sara Glaser und der zierlichen Michaela Clay. Oehler will die „Orlet-Kammer“ aushebeln. Als er den Richter und dessen Kollegen vor zwei Jahren kennenlernte, ist ihm sein „Vertrauen in die Justiz abhanden gekommen“. Die drei brachten Verständnis für einen Mann auf, der nachts in die Wohnung einer Unbekannten eindrang, sich nackt auszog, aus der Küche ein Messer mitnahm und die Frau vergewaltigte. Er gab als Motiv an: Ärger im Job und die Weigerung seiner Ehefrau, mit ihm zu schlafen. Die Kammer erkannte auf Bewährungsstrafe. Proteste des Laienrichters Oehler wurden beiseite gewischt: „Da konnte ich in der Beratung mit Engelszungen reden, aber durchsetzen konnte ich mich als Schöffe nicht.“ Politisch ist Bernd Oehler ein durchtrainierter Mensch. In die SPD trat er 1969 ein, blieb nicht lange, wechselte zu einer marxistischen Kadergruppe und fühlt sich heute den Grünen nahe.
Mit Drohungen rechnet er
Sara Glaser und Michaela Clay kennt er flüchtig. Als er hörte, daß auch die Schöffin Michaela Clay bedroht wurde, rief er sie an. Zu einem Treffen oder Erfahrungsaustausch aber kam es nicht. „Offen gestanden“, sagt Oehler, wollte er mit den Ängsten der Schöffin, die sich viel bedrohter fühlte als er, nicht allzuviel zu tun haben. Von den streikenden Schöffen in Mannheim sind bisher nur die Männer an die Öffentlichkeit gegangen. Sie reden in der Presse über politische Motive und zeigen keine Angst. Die Frauen führen eher persönliche Gründe für ihre Verweigerung an, und sie suchen den Schutz der Anonymität. „Natürlich auch, weil Frauen körperliche Gewalt mehr fürchten müssen als Männer“, sagt Sara Glaser. Und im gleichen Moment ärgert sie sich, daß die Rechnung der rechten Bedroher aufgeht. Und daß das Klischee mal wieder der Wahrheit ziemlich nahekommt.
Wenn nachts das Telefon klingelt und sie wieder von irgend jemandem beschimpft werden, nützt es den streikenden SchöffInnen wenig, daß sie eine stattliche Anzahl prominenter und weniger bekannter Menschen hinter sich wissen. RichterInnen und Staatsanwälte erklärten ihre Solidarität. Ein sogenannter Patenkreis, dem der Mannheimer Industriepfarrer Martin Huhn, GewerkschafterInnen und rot-grüne PolitikerInnen angehören, hält den Kontakt zur Presse. Von dem Geld, das auf einem Solidaritätskonto eingeht, werden die Ordnungsgelder bezahlt, mit denen die SchöffInnen zum Dienst gezwungen werden sollen.
Daß sich die Verweigerung der MannheimerInnen zu einer bundesweiten Protestwelle von LaienrichterInnen gegen ihre beschränkte Macht ausweiten wird, damit ist nicht zu rechnen. Die Boykotteure sind darauf bedacht, nicht als Gruppe, sondern als Individuen aufzutreten. Niemand soll parteipolitisches Kalkül hinter ihrer Aktion vermuten können.
Im Hinterzimmer der Ersten und Sechsten Großen Strafkammer muß keiner der drei Richter um seine Ruhe fürchten. Da werden die Profis weiterhin das Sagen haben. Richter Orlet beantwortet Fragen nach dem Protest gegen ihn und seine Arbeit sarkastisch kühl. Das Gericht arbeite wie immer. Es gebe doch eine Menge Schöffen in Mannheim.
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