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Die Spiele großer Männer

■ Henry Kissinger beschwört die Tragödien der Alten Welt, um die gefährliche Unschuld der Neuen zu ernüchtern - Simon Schama über "Die Vernunft der Nationen", das neueste Buch des ehemaligen amerikanischen ...

Vor dreißig Jahren, als Henry Kissinger noch Professor in Harvard war und ich ein junger Student in Cambridge, versuchte sich jeder an „Diplomatie“ („Diplomacy“ ist der Titel des englischen Originals von Kissingers neuestem Buch). Es ähnelte keinem anderen Brettspiel: keine Würfel; keine Karten; keine Figürchen. Als Brett diente eine Landkarte Europas im Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg, und die Spieler übernahmen die Rollen der Großmächte. Die Vereinigten Staaten und Japan blieben außer acht, weil sie zu sehr an der Peripherie lagen. Wir spielten nicht um zu siegen. Uns war klar, daß alle Sieger des Großen Krieges – wie Kissinger es denkwürdig ausgedrückt hat – letzten Endes auch verloren hatten. Das Ziel lautete, irgendwie zu überdauern. Daß niemand genau wußte, wie dieses Überdauern aussehen würde, war völlig irrelevant, weil das Spiel niemals zu einer endgültigen Entscheidung führte. Es schwand dahin wie der Krieg selbst: aufgrund von Erschöpfung und Überdruß. Zu den „Zügen“ des Spiels gehörten die Entsendung kleiner Plastikkriegsschiffe, der grenzüberschreitende Einsatz von Infanteriedivisionen oder auch die Verteidigung der eigenen Grenzen. Aber das waren nur deklaratorische Gesten. Wirklich von Bedeutung war der Zeitraum der „Diplomatie“ vor den Zügen: die zwanzig Minuten, in denen die verschiedenen Kanzler und Außenminister der Großmächte miteinander über ihre jeweiligen Absichten konferierten.

Im Treppenhaus meines College in Cambridge – die Kinderstube von Staatsmännern und Spionen – versammelten sich die Intriganten, verschworen sich zu Bündnissen oder ließen sie auffliegen. Der deutsche Reichskanzler (aus Liverpool, Studienfach Mathematik) zog sich mit dem französischen Außenminister (aus Bristol, Englisch) in einen Waschraum zurück, wo sie irgendetwas unaussprechlich Böses gegen die exponierte Flanke des Ottomanischen Reiches (Twickenham, Moralphilosophie) ausheckten. Historische Kentnisse waren nützlich, aber es empfahl sich nicht, sie allzu wörtlich umzusetzen. Täuschung, Manipulation, Intrige und Verrat waren an der Tagesordnung. Freundschaften zerbrachen über Nichtangriffspakten, die irgendwo in der Umgebung Triests bedenkenlos gebrochen wurden. Es gab nur eine entscheidende Regel: Man durfte sich auf gar keinen Fall Österreich-Ungarn aufhalsen lassen, denn auch mit den schönsten Verteidigungsplänen war unmöglich zu verhindern, daß alle anderen Spieler über die viel zu ausgedehnten Grenzen herfallen würden. Ach ja, mit schöner Regelmäßigkeit traf es mich, und unvermeidlich fielen alle über mich her.

Unsentimentales Gespür für nationale Interessen

Ich habe mir sagen lassen, daß Anfang der sechziger Jahre, als Henry Kissinger das Internationale Seminar in Harvard leitete, in seinem Arbeitszimmer ein Diplomatiespiel herumgestanden habe. Das war für mich keine besondere Überraschung. Um in diesem Spiel zu überleben, bedurfte es eben jener Eigenschaften, die er auch in seinem neuen Buch rühmt: ein klarsichtiges und unsentimentales Gespür für das nationale Interesse; Mißtrauen gegenüber kollektiven Sicherheitsvereinbarungen, die ein übereinstimmendes Urteil über Aggressionen voraussetzten; eine Vorliebe für klare Bündnisse, die sich auf die jeweiligen Interessen stützen statt auf fromme Sprüche über Frieden und Freiheit; und vor allem die nüchterne Annahme, daß in den Beziehungen zwischen Staaten wie zwischen Menschen nicht die Harmonie normal ist, sondern der Konflikt. Kein Wunder, daß die Vereinigten Staaten in diesem Spiel keinen Platz fanden: die benötigten Fertigkeiten waren genau jene zynischen Spielzüge der Alten Welt, gegen die die Republik gegründet und Woodrow Wilsons Vierzehn Punkte (vier mehr als le bon dieu, wie Clemenceau konstatiert hatte) entworfen worden waren. Anders als im Spiel beschäftigt sich Kissingers fesselndes Werk jedoch unmittelbar mit einigen der schwierigsten Fragen unserer Zeit: Ist eine amerikanische Realpolitik ein Widerspruch in sich? Können die Vereinigten Staaten eine Diplomatie betreiben, die sich auf die Kalkulation nationaler Interessen stützt, ohne in periodische Zuckungen des Selbsthasses zu verfallen? Oder schließt die gesamte Geschichte und Natur der amerikanischen Politik als Nation jede Diplomatie – gleich, ob liberal oder konservativ gefärbt – aus, die nicht in irgendeiner Form den hehren Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung verhaftet ist?

Da Kissinger unter allen amerikanischen Führern einzig Theodore Roosevelt und Richard Nixon – dem hemmungslosen Imperialisten und dem unnachahmlichen Einzelgänger – die Fähigkeit zuschreibt, seinen Ansatz der Außenpolitik zu antizipieren, erscheinen die Aussichten für eine Yankee-Realpolitik nicht besonders günstig. Und Leser dieses Buches werden in seinen enttäuschend diffusen und sich wiederholenden Schlußfolgerungen vergebens nach tröstlichen Prognosen suchen. Zu den Vorzügen des Buches (es hat viele) zählen einfache Antworten nicht. Aber in Zeiten, in denen strategische und nationale Interessen immer schwieriger zu benennen sind, ist es wichtig, die Zeugnisse der Geschichte heranzuziehen, um nach den Verpflichtungen amerikanischer Machtausübung zu fragen.

Diplomatische Porträtgalerie

Es hat sich die Ansicht durchgesetzt, „Die Vernunft der Nationen“ bestehe in Wirklichkeit aus zwei Büchern: einem historischen Überblick über die Außenpolitik Europas und der Vereinigten Staaten während der letzten zweihundert Jahre, und einer Rechtfertigung gegenüber der Kritik in Walter Isaacsons umfassender Kissinger-Biographie (auf deutsch in der Edition q erschienen, 900 Seiten, 68 DM) und den beißenden Angriffen Seymour Hershs in seiner Studie über Kissingers Zeit in der Regierung Nixon. Aber diese Auffassung ist falsch. Der Teil des Buches, der sich mit Kissingers Karriere als Sicherheitsberater und Außenminister auseinandersetzt, umfaßt kaum ein Achtel des Bandes. Und aus irgendeinem Grunde – vielleicht aufgrund eines Gefühls der Ermüdung, denselben mühsamen Weg noch einmal durchschreiten zu müssen – scheinen sich die Lebendigkeit und Energie, von denen große Teile des Buches inspiriert sind, zu einer Defensivhaltung zu verhärten, je mehr sich die Erzählung der Karriere des Autors zuwendet. Daher sollte jeder zukünftige Leser von „Die Vernunft der Nationen“, mag der 999 Seiten umfassende Band noch so bedrohlich wirken, sich ständig anfeuern: Nicht aufhören!

„Die Vernunft der Nationen“ ist ein entschlossen altmodisches Buch – die Art Buch, die Henry Kissinger auch hätte schreiben können, wäre er in Harvard geblieben. Damals begriff er seine analytische Monographie über die Friedensschlüsse nach den napoleonischen Kriegen, „A World Restored“ (1957), als Beginn einer Reihe von Büchern, die seine Darstellung der Realpolitik bis zum ersten Weltkrieg führen sollten. Seit Kissinger die Universität verließ, hat sich im Genre der Diplomatiegeschichtsschreibung viel getan, aber „Die Vernunft der Nationen“ ist eine Erzählung von großen Männern und Ereignissen, gewürzt mit Epigrammen und lapidaren Äußerungen über die Praxis der Macht – ein reizvoller und unbefangener Schritt zurück in die Literatur der fünfziger Jahre. Die klügsten Praktiker dieser früheren Generation, Denker wie A.J.P. Taylor, werden von Kissinger angemessen, wenn auch nicht lobend zur Kenntnis genommen. Und wie ihre großen, überaus polemischen Texte steckt auch „Die Vernunft der Nationen“ voller Ironie und geht davon aus, Außenpolitik sei tatsächlich das gewesen, was ihre Akteure und Herren – von Metternich bis Truman – aus ihr gemacht hätten. Die meisten Kapitel gruppieren sich um die Taten der Mächtigen und so entsteht eine Art diplomatischer Porträtgalerie. Einige der großen Akteure, wie Bismarck, Stresemann, Truman und Stalin, sind gut getroffen; andere, wie Palmerston und Napoleon III., sind nur skizzenhaft umrissen.

Dieser Ansatz bedarf keiner Rechtferigung. Taylor und seine Generation (und auch George Kennan in den Vereinigten Staaten) waren der Überzeugung, die Geschichte sei der beste Lehrmeister der Staatskunst – ein Ideal, das auf die Ursprünge westlicher Geschichtsschreibung zurückgeht, auf den Bericht des Thukydides vom Peloponnesischen Krieg. Ähnlich ist auch Kissinger überzeugt, die amerikanische Geschichtslosigkeit sei die Ursache unserer unheilvollsten Akte moralischer Hybris. Geschichte, so argumentiert er einsichtig, liefert niemals einen sauber abgesteckten Weg für die Zukunft, obwohl Amerikaner ihr eben diesen abverlangen. Im Gegenteil: Geschichte ist eine Erzählung von Zwängen, Durcheinander und unvorhergesehenen Resultaten. Aber gerade die Fallen der Geschichte liefern die besten Lektionen. Sie lehren ein Gefühl für Grenzen, ohne das auch eine Kultur, die sich auf einen grenzenlosen Horizont fixiert, nicht auskommen kann. Daher gibt sich „Die Vernunft der Nationen“ als eine umgekehrte Monroe-Doktrin: die Tragödien der Alten Welt werden beschworen, um die gefährliche Unschuld der Neuen zu ernüchtern.

Richelieus Rolle

Die Figur, die Kissinger am häufigsten als Inbegriff der hartgesottenen, von Interessen geleiteten Diplomatie heranzieht, ist der Kardinal Richelieu. Richelieu und nicht Machiavelli schreibt Kissinger die Parole der raison d'etat zu – ein Begriff, den Richelieu tatsächlich nur zweimal in seinem „Politischen Testament“ verwendet. Der Kardinal in seiner Scharlachrobe, mit traurigem Schnurrbart und glänzenden Augen, schreitet durch die Seiten von „Die Vernunft der Nationen“: Er ist die höchste Muse des Buches und fordert zu wenig schmeichelhaften Vergleichen heraus, wenn zum Beispiel John Foster Dulles wieder einmal auf dem Bauch gelandet ist. Fast hört man Kissinger murmeln: „Ich kannte Richelieu, und glauben Sie mir, Herr Minister, Sie sind kein Richelieu.“

Der Ärger ist, daß Kissinger in Wirklichkeit Richelieu gar nicht so gut kennt. Er verläßt sich für sein Porträt von Richelieu auf jene Art anachronistischer Literatur, die im Prälaten des siebzehnten Jahrhunderts einen Proto-Bismarck in Seide sehen möchte, kühn emanzipiert von konventionellen Rücksichten, und in seinen Motiven nicht vom Glauben bewegt, sondern von Interessen. Er geht von einem im wesentlichen modernen Geist unter dem Kardinalshut aus. Aber Richelieus Christentum war eben ganz und gar kein Feigenblatt für die Verfechtung nationaler Interessen; im Gegenteil, es war die treibende Kraft seines öffentlichen Lebens. Es gibt keinen Grund zum Glauben an seine Unaufrichtigkeit, als er sagte: „Was für den Staat getan wird, wird für Gott getan. Er ist Grundlage und Fundament des Staates.“ Zwar beschuldigten ihn seine Feinde durchaus jener Art Weltlichkeit, die Kissinger als politischen Vorzug wertet. Aber der Kissinger des Kardinals, seine graue Eminenz, war der Kapuzinerpater Joseph, und wenn Richelieu auch Vernunft und Frömmigkeit für vereinbar hielt, so enthüllen sein Handbuch für Beichtiger und seine Kanzelberedsamkeit ihn eher als einen Soldaten der Gegenreformation. Sein Kampf galt nicht der Kirche, sondern dem spanisch-habsburgischen Imperialismus. Indem er taktische Bündnisse mit den protestantischen Ketzern im Ausland abschloß, glaubte er sich in einer besseren Position, um die protestantischen Hugenotten im eigenen Land anzugreifen.

Kissinger hat recht, wenn er die langfristige Bedeutung von Richelieus unwandelbarer Entschlossenheit zur Wiederherstellung des europäischen Machtgleichgewichts hervorhebt. Aber Richelieu war weniger dem Grundsatz des Gleichgewichts verpflichtet als dem Wunsch, die französische Krone als aggressivsten Verteidiger des katholischen Absolutismus zu bewahren. Jeder unschuldige Leser von Kissingers Darstellung würde vermuten, die Bemühungen des Kardinals seien von Erfolg gekrönt worden; aber wie J.H. Elliott in seiner erhellenden vergleichenden Studie von 1984 „Richelieu und Olivares“ hervorhebt (von Kissinger wird sie nicht zitiert), hinterließ Richelieu Frankreich in Wirklichkeit die Bürgerkriege der Fronde, politische Wirren und das scheußliche Elend, das mit den ungeheuren Steuern zur Finanzierung der Kriege des Kardinals einherging.

Ebenso eindrucksvoll übergeht Kissinger den institutionellen Despotismus, der innenpolitisch notwendig zur raison d'etat gehörte. Selbst nach den schauerlichen Normen des siebzehnten Jahrhunderts war Richelieus Herrschaft außergewöhnlich brutal – mit ihren Spitzeln und bösartigen summarischen Verfahren, seiner Gewohnheit, Menschen mit anderen Ansichten in der Bastille einzukerkern oder hinzurichten. Aber Kissinger besitzt nun einmal eine besondere Fähigkeit, die ideologischen Inhalte der Regimes zu ignorieren, denen seine meistbewunderten Virtuosen der Diplomatie dienen, als bewegten sich Außen– und Innenpolitik auf völlig unterschiedlichen Ebenen. Wer in den auswärtigen Beziehungen nur an die reine Technologie der Macht zu glauben vermag, wird allerdings im eigenen Land nur selten der Freiheit anhängen. G. Gordon Liddy und seinesgleichen hätten sich unter Richelieu oder Metternich sehr zu Hause gefühlt.

Es mag stimmen, daß der Wiener Kongreß nach den napoleonischen Kriegen eine Lösung konstruierte, die vier Jahrzehnte eines relativ friedlichen Gleichgewichts der Mächte zur Folge hatte. Aber ebenso wahr ist doch, daß Metternichs Engagement weniger einer abstrakten Vorstellung vom europäischen Frieden galt als der Bewahrung von Österreichs christlicher Dynastie. Die gemeinsamen „Werte“, in denen Kissinger häufig den Zement sehen will, der die Mächte von Wien zusammenhielt, ohne genauer auf ihren Inhalt einzugehen, bestanden vor allem aus einer grimmigen Feindschaft gegenüber liberalem Konstitutionalismus und nationaler Selbstbestimmung. Die verbreitete amerikanische Vorstellung, eine Gemeinschaft liberaler, nationaler Demokratien werde für eine friedliche Welt sorgen, ist in Kissingers Augen gerade die Ursache der naiven Kurzsichtigkeit unserer Diplomatie.

Aber eine Alternative zur Realpolitik ist keineswegs eine ausschließlich amerikanische Vision. Gegen Mitte des sechzehnten Jahrhunderts waren, besonders in Spanien, zahlreiche Schriften entstanden, die zwischen gerechten und ungerechten Kriegen zu unterscheiden suchten. Tatsächlich bemühte sich sogar Richelieu – der in Kissingers Version solchen Skrupeln ganz unzugänglich hätte sein müssen – ganz ernsthaft um den Nachweis der Gerechtigkeit und Moralität von Frankreichs militärischem Vorgehen gegen Habsburg. Hätte Kissinger schärfer hingesehen, hätte ihm auffallen können, daß im Jahr nach Richelieus Aufstieg, 1625, der holländische Jurist Hugo Grotius, damals im Exil in Paris, sein „De jure belli ac pacis“ veröffentlichte („Über das Recht von Krieg und Frieden“): der bis dahin überzeugendste Versuch, zwischen dem gerechten und dem ungerechten Krieg zu unterscheiden und Grenzen für die Greuel zu setzen, unter denen im Namen der militärischen Notwendigkeit die Zivilpersonen zu leiden hatten. Grotius war auch keineswegs ein weltfremder pazifistischer Philosoph; er war Politiker und Staatsmann und hatte in den Niederlanden im Gefängnis gesessen; er erkannte die Notwendigkeit der Gewalt in den Beziehungen der Mächte untereinander durchaus an, war aber nicht bereit, damit die Möglichkeit eines moralischen Urteils in internationalen Beziehungen preiszugeben.

Hätte Kissinger ein Buch schreiben wollen, das wirklich die Geschichte der Diplomatie umspannt, hätte er den Erben Grotius' in seiner Darstellung mehr Raum geben können, auch wenn er ihnen nicht viel Ehre hätte zuteil werden lassen. Er hätte zum Beispiel das Fortdauern Grotiusscher Ideen in den Abhandlungen der Aufklärung über internationales Recht wahrnehmen können, oder in Gladstones Liberalismus etwas mehr sehen können als die frömmelnde Folie für Disraelis Realpolitik.

Plump jedoch wäre es, über jene Kapitel in „Die Vernunft der Nationen“ zu klagen, in denen die Geschichte vom Krimkrieg bis Jalta erzählt wird, denn in diesem zentralen Teil des Buches kommt Kissingers Erzählung wirklich in Schwung. Ihre Seiten sind voller Intelligenz und erhellender Einsichten; Kissinger bewegt sich offensichtlich voller Behagen in der Gesellschaft von Stresemann, Churchill und de Gaulle, und noch mehr genießt er es, ihre Leistungen zu benoten. Besonders vernichtend fällt sein Urteil aus über die Augenblicke ungeheuerlicher diplomatischer Selbsttäuschung wie beim beklagenswerten Briand-Kellogg-Pakt von 1928, in dem statt eines realistischen Bündnissystems, das tatsächlich zur Verhinderung des Krieges hätte beitragen können, eine hochgesinnte Ächtung des Krieges beschworen wurde. Über Stanley Baldwins Reaktion auf Hitlers Wiederaufrüstung (er setzte seine Politik der Abrüstung fort) schreibt Kissinger bissig: „Baldwin enthielt sich allerdings der Antwort auf die Frage, was Hitler wohl zur Teilnahme an Abrüstungsverhandlungen bewegen sollte, solange England einseitig abrüstete.“

Die Techniken der Diplomatie

Das Buch ist ein eigenartig fesselndes Gemisch aus Perlen und Schnitzern. Zum Glück erinnert man sich vor allem an die Perlen, selbst wenn Kissinger besonders tendenziös wird. Hitlers obsessive Prophezeiung der Kürze seines eigenen Lebens kommentiert er: „Die Geschichte kennt kein anderes Beispiel für einen Krieg, der aufgrund medizinischer Mutmaßungen eingeleitet wurde.“ Wie andere Vertreter der großen Tradition der Realpolitik, von Talleyrand (der kaum erwähnt wird) bis Bismarck, kennt Kissinger nichts Schöneres als eine großartige Maxime zu polieren und sie dann in seiner glänzenden Prosa der Nachwelt zu überliefern. „Ein Land, das sich moralische Vollkommenheit als Maß seiner Außenpolitik abverlangt“, schreibt er mitten zwischen Attacken auf die Weigerung amerikanischer Politiker, die Nato als Bündnissystem zu begreifen statt als demokratischen Kreuzzug, „wird weder seinem Streben nach Perfektion noch seinen Sicherheitsbedürfnissen genügen können.“

„Die Vernunft der Nationen“ erreicht jedoch höchstes Niveau, wenn Kissinger den Smoking des Staatsmannes ablegt und informelle Einsichten in Techniken und Betrieb des Metiers vermittelt. Er verweist zum Beispiel scharfsinnig auf die symbolische Bedeutung von Roosevelts Reaktion auf Stalins Angebot sowjetischer Unterkunft bei der Konferenz von Teheran 1943 – es wurde angenommen aus Angst vor einem möglichen Attentat auf den verkrüppelten Präsidenten. Ein scheinbar geringfügiges Detail der Unterbringung brachte Stalin, der unbedingt die westlichen Verbündeten in die Defensive drängen wollte, in eine günstige Situation, weil Roosevelt sich seinem Gastgeber physisch verpflichtete. Und Kissinger versteht auch, wie sich Roosevelts freundliche Charakterisierung von „Onkel Joe“ auf die Wahrnehmung der amerikanischen Öffentlichkeit auswirken mußte, da er einen finsteren und mörderischen Diktator in einen netten Kerl von nebenan verwandelte.

In diesen aufmerksamen Nebenbemerkungen verbirgt sich ein ganz anderes Buch, das ebenfalls den Titel „Diplomatie“ hätte tragen können: eine Anatomie der Methoden und Winkelzüge des Metiers, geschrieben mit der scharfen analytischen Intelligenz eines ehemaligen Außenministers – Insider und Außenseiter zugleich –, dessen Empfindsamkeit für die Nuancen der diplomatischen Sprache unerreicht blieb. Die Kapitel dieses anderen Buches hätten nicht von Bismarck, Wilson und Truman gehandelt, sondern von der verschlüsselten Sprache der diplomatischen Weisungen; den Ritualen des staatlichen Protokolls; der Beziehung von Staatsmännern zur Presse; der täglichen Routine der Botschaften, eine Anthropologie der Diplomatie.

Ein solches Buch zu schreiben, wäre vielleicht unter der Würde des ehemaligen Staatsmanns, der seine diplomatische Philosophie der Nachwelt übermitteln möchte. Aber in mancher Hinsicht – denn ich hoffe immer noch, daß Kissinger es eines Tages schreiben wird – würde es seiner eigenen Sache sogar noch besser dienen als das Buch, das er geschrieben hat. Im Kern aller Ansichten Kissingers liegt eine beißende Ironie. Wenn er auch überzeugt ist, die demokratischen Ideale der Vereinigten Staaten bürdeten dem freien Wirken unserer Außenpolitik eine unerträgliche Last auf, so wäre doch Kissinger der letzte, ihren grundlegenden Adel zu leugnen. Wie er selbst bei seinem Amtsantritt als Außenminister anerkannte, während seine Eltern auf einer Ebene mit Nixon neben ihm standen: so etwas war nur in Amerika möglich. Wenn also Kissinger darauf besteht, daß das Buhlen um die öffentliche Meinung keinen Ersatz für eine rationale und pragmatische Politik bietet, so muß er doch Präsidenten wie Roosevelt und Truman bewundern, die sich alle Mühe gaben, ihren Wählern unpopuläre Entscheidungen schmackhaft zu machen. Und gegen den Kern seines Skeptizismus muß er sogar zugeben, daß Ronald Reagan, dessen Hang zu dämonisierender Rhetorik zusammen mit einem impulsiven Verhandlungsstil für die Außenpolitik einen ganz besonderen Albtraum hätte bilden müssen, es doch schaffte, Kürzungen in der Atomrüstung auf eine Weise zu rechtfertigen, wie sie einem Liberalen oder einem Realpolitiker ziemlich unmöglich gewesen wäre.

Scharfäugiges und Blauäugiges

Gerade an diesem Punkt – dem Punkt der Institutionen, wo sich der Scharfäugige mit dem Blauäugigen trifft – hätte man Kissinger gewünscht, er hätte sich auf den eigenen scharfen Blick konzentriert. Denn hier, irgendwo in den bürokratischen Gefilden des Außenministeriums (dessen Gewohnheiten er im Text kritisiert, aber in seiner Widmung rühmt) ist das gegenwärtige Dilemma der amerikanischen Macht am schmerzlichsten fühlbar. Das vermittelte mir eine außergewöhnliche Fernseh-Dokumentaton über die Reaktionen der Regierungen Bush und Clinton – beziehungsweise das Fehlen einer Reaktion – auf die Belege für Greuel in Bosnien. Ein Vertreter des Außenministeriums, durchaus dem nationalen Interesse verpflichtet, ging einfach davon, als er niemanden auf der siebenten Etage davon überzeugen konnte, gefolterte und ausgehungerte Körper hinter Stacheldraht seien das eigentliche Anliegen der Diplomatie. Als Kissingers Schützling Lawrence Eagleburger, unter Bush stellvertretender Außenminister, darauf angesprochen wurde, räumte er ein, solche Dinge seien wirklich unvorstellbar böse, abstoßend und ekelhaft. Aber was, so fragte er mit einer Art wütender Impotenz in den Augen, solle er denn dagegen tun? Man hätte ihm einige Antworten direkt aus dem Wörterbuch der raison d'etat liefern können: das Waffenembargo aufheben, mit Luftangriffen drohen. Aber was man auf Eagleburgers zutiefst bedrücktem Gesicht wahrnahm, das war die selbstauferlegte Lähmung der Realpolitik.

Aus dem Amerikanischen

von Meinhard Büning

„Die Vernunft der Nationen –

Über das Wesen der Außenpolitik“,

übersetzt von Matthias Vogel,

Lektoratsbüro Bonn, Siedler Verlag,

Berlin 1994, 1001 Seiten, 78 DM

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