■ Vorlesungskritik: Marx ist an allem schuld
Vor zwanzig Jahren las er zwei Semester lang vor leeren Bänken. Im Oktober 1988 zog ein College der Universität Oxford nach heftigen Protesten die Einladung zu einem Vortrag zurück. Als er 1992 in Bologna zu Gast war, besetzten Studierende den Hörsaal.
Einzig an der Freien Universität, am Mittwochmorgen um acht, ist Ernst Noltes Welt noch in Ordnung. Wenn der 72jährige, obschon längst emeritiert, über „Die Linke und die Rechte in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg“ liest, sind die Reihen im Hörsaal fest geschlossen. Der Mann, der Punkt Viertel nach acht mit dem konservativen dreiteiligen Anzug und in tadelloser Haltung ans Katheder tritt, wirkt wie ein verstaubter Studienrat – der Beruf, den Nolte bis zu seinem 41. Lebensjahr ausübte. Nebenher schrieb er das Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“, das dem studierten Philosophen damals die Habilitation eintrug und noch heute als Standardwerk gilt. Gleichwohl finden sich dort bereits Ansätze zu später umstrittenen Thesen.
1986 entfachte er den „Historikerstreit“, als er in der FAZ fragte: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ,asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ,asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ,Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz?“ Für die größere Öffentlichkeit weit weniger spektakulär, doch für seinen Ruf in der Fachwelt mindestens ebenso ruinös war sein Versuch, die Anfänge dieses „Europäischen Bürgerkriegs“, der sich nach seiner Ansicht von 1917 bis 1945 zwischen Bolschewisten und Faschisten zutrug und im Zweiten Weltkrieg als virtuellem „Einigungskrieg Europas“ gipfelte, ins 19. Jahrhundert zurückzuverlegen. Was bei Stalin und Hitler später blutige Realität wurde, hätten Marx und Nietzsche demnach schon theoretisch ausgetragen.
Demgemäß stellt Nolte das, was auf den ersten Blick wie eine ganz unverfängliche Geschichte des „langen“ 19. Jahrhunderts erscheinen mag, schon durch den Titel der Vorlesung unter das Paradigma des Links-rechts-Dualismus. Dabei trägt er wie stets provokante Thesen nur in Andeutungen oder in Frageform vor, um sich notfalls darauf zurückziehen zu können, er sei mißverstanden oder falsch zitiert worden.
Marx habe in der Revolution von 1848 „den großen Endkampf in dem sich anbahnenden Bürgerkrieg, den er Klassenkampf nannte“, gesehen. „Tschechen und ähnliches Lumpengesindel“ hätten nach Marx' Ansicht „die germanische Freiheit erwürgt.“ Daraus schließt Nolte, daß „die negative Bedeutung des Terminus ,asiatisch‘, die manche Leute ins Jahr 1986 verlegen möchten, in Wirklichkeit 150 Jahre älter ist“, kurzum: „Völker- und Klassenvernichtung wird hier propagiert.“ Die Rechte dagegen wirke zu jener Zeit noch „zivil und zurückhaltend“, ihre Radikalisierung sei schon damals nur eine Reaktion gewesen: „Wie wird eine Rechte aussehen, die die kollektive Emotionalität und Grundsätzlichkeit der Linken übernimmt?“ Ralph Bollmann
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