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■ Die „Zeitenwende“ nach 1989, sie war von kurzer Dauer: Politik ohne Rat – Friedensforschung ohne Antwort?Die Saat des Wahnsinns trägt Früchte

Mitte 1994 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Friedensforschung als Sonderforschungsprogramm gestrichen; auch der Antrag auf Einrichtung zweier neuer Schwerpunkte wurde in diesen Tagen abgelehnt. Abermals gekürzt wurden auch die Friedensforschungsmittel im Haushalt des neuen Forschungsministers Jürgen Rüttgers. Bis auf eine geringe Restverpflichtung taucht Friedensforschung im Bundesetat 1995 nicht mehr auf; der Kanzler selbst soll dagegen sein. Und die VW-Stiftung? Wie viele wichtige Projekte hat sie in den letzten Jahren gefördert! Wie viele Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen konnten sich mit ihrer Hilfe die ersten Meriten verdienen! Gleichwohl endeten beide Schwerpunktprogramme mit Beginn des Jahres 1995.

Weshalb diese rigorosen Beschneidungen? Wird Friedensforschung nach der „Zeitenwende“ nicht mehr gebraucht? Herrscht etwa dauerhaft Frieden in Europa und auf der Welt? Die täglichen Medienberichte belegen das Gegenteil. Die Saat des machtpolitischen und ethnonationalen Wahnsinns trägt wieder Früchte – auch in Europa. Die wenigen Jahre nach dem „Epochenbruch“ von 1989/90 brachten auch Europa ein Vielfaches mehr an Kriegstoten als die Jahrzehnte davor.

Wem ist diese Entwicklung zuzuschreiben? Der Wissenschaft? Der Hohen Politik? Nur wer bösen Willens ist, kann von einem Versagen der Friedensforschung sprechen: Bereits zu Zeiten der Abschreckungsblöcke hat die Friedensforschung eine Vielzahl von Forderungen nach kollektiver Sicherheit, nach Abrüstung, aber auch nach Gerechtigkeit und sozialer Wohlfahrt aufgestellt und konzeptionelle Vorschläge unterbreitet und Handlungsalternativen aufgezeigt. Zu Recht oder Unrecht wurden diese Forderungen, Vorschläge und Alternativen zu Zeiten des Ost-West-Konflikts als irreal und utopisch abgetan. Über Jahrzehnte hinweg aber war das große Versprechen aller politischen Akteure und Entscheidungsträger, die großen existentiellen Probleme der Menschheit zu lösen, wenn erst einmal der Ost- West-Konflikt beseitigt ist. In der „Charta von Paris“, der Erklärung der Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten, wurde dieses Versprechen am 21. November 1990 nochmals wiederholt und bestätigt: „Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: ... Wohlstand und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.“

Nur fünf Jahre nach „Epochenbruch“ und „Zeitenwende“ scheinen diese Versprechen bereits wieder vergessen. Mehr noch: Mitte der neunziger Jahre wird immer offensichtlicher, daß die Staaten und Völker der Welt in dramatischer Weise auf dem Weg sind, ihre Jahrhundertchance zu verpassen. Das gilt auch und gerade für die Bundesrepublik Deutschland. Zu den entscheidenden Fehlern und Defiziten der gegenwärtigen deutschen Bundesregierung (und ihrer Gegenspieler) gehört in Sicherheitsfragen ihre weitgehende Konzeptionslosigkeit.

Wie kaum ein anderer Staat hat gerade Deutschland von dem Ende des Ost-West-Konfliktes profitiert. „Deutschland liegt nicht mehr in unmittelbarer Reichweite eines zur strategischen Offensive und Landnahme befähigten Staates.“ (V. Rühe) Weitreichende Konsequenzen blieben gleichwohl aus oder wurden grundlegend falsch gezogen:

– obwohl nicht länger Frontstaat, besitzt Deutschland nach wie vor einen der größten Militärapparate der Welt;

– obwohl der Verfassungsauftrag „dem Frieden dienen“ nicht militärisch gemeint ist, sind die Ausgaben für die Bundeswehrsoldaten heute pro Kopf erheblich höher als jemals zu Zeiten des Ost-West- Konfliktes;

– obwohl die „Kultur der Zurückhaltung“ gepredigt wird, ist Deutschland heute, anders als jemals zu Zeiten des Kalten Krieges, Rüstungsexportland, nimmt mittlerweile den dritten Platz im weltweiten Waffengeschäft ein;

– obwohl eine defensive Umstrukturierung der Streitkräfte endlich möglich ist, rüstet die Bundeswehr offensiv für Einsätze erstmals auch „out of area“;

– obwohl die öffentliche Armut und Schuldenlast erdrückend scheint, werden gewaltige Summen in Höhe von vielen hundert Millionen Mark für eine Politik militärischer Großmannssucht verschleudert oder, wie jüngst in Somalia, sprichwörtlich in den Sand gesetzt;

– obwohl Militärpakte nach dem Wegfall des Gegners dysfunktional und überholt sind, werden auch und gerade von der Bundesrepublik Deutschland Nato und WEU als quasi alternativlos fortgeführt, statt den Umbau hin zu einem – auch vom Grundgesetz geforderten – europäischen System kollektiver Sicherheit zu beginnen.

Doch die in Paris versprochene neue Qualität der Sicherheitsbeziehungen entwickelt sich nicht. Die Vielfalt europäischer Sicherheitsstrukturen dauert an; selbst Rüstungsbegrenzung und Abrüstung sind nicht länger Gegenstand weiterführender Verhandlungen.

Auch Mitte der neunziger Jahre besteht noch immer – oder wieder – eine defizitäre und fragmentierte Sicherheitsarchitektur aus nicht weniger als sechs internationalen Organisationen. Statt Arbeitsteilung und Kooperation stehen Konkurrenz und Dominanz auf der Tagesordnung. Die Nato gegen die EU (und WEU). Die EU ohne KSZE und UNO. Nato, EU und WEU gegen Rußland und GUS. Nato, EU und WEU mit der KSZE und in Ausgrenzung Rußlands. Schon ist Europa wieder in Zonen ungleicher Sicherheit gespalten. Die Gruppierung der Nato-, EU- und WEU-Staaten beansprucht und garantiert Sicherheit exklusiv für sich. Gegenüber steht Rußland, nach außen militärisch stark, nach innen relativ instabil. Dazwischen liegen die konfliktreiche Zone der russisch dominierten GUS-Staaten einerseits und die heterogene Zone der nach „Westen“ tendierenden Reformstaaten andererseits. Keine dieser vier Zonen ist gleichzeitig in sich als auch in bezug auf die Nachbarn stabil. Keine der Zonen bildet ein regionales System kollektiver Sicherheit oder ist mit den anderen Zonen durch den Kitt kollektiver Sicherheit – sprich: durch eine Beistandsgarantie – verbunden.

Was ist die Konsequenz einer solcherart defizitären, fragmentierten und überrüsteten Sicherheitslandschaft? Zeichnet sich am Horizont nicht bereits wieder ein in Abschreckungsblöcken zerrissenes Europa ab, in dem die Militärpotentiale der Staaten eine größere Rolle spielen als ihre zivilen Möglichkeiten? Schon spricht auch Boris Jelzin wieder von „zwei Blöcken in Europa“. Schon treibt die Saat des Abschreckungswahnsinns aufs neue Keimlinge.

Doch nicht genug: Frieden ist mehr als „nur“ die Abwesenheit von Krieg (zumal in Europa). Frieden ist auch und gerade der (weltweite) Prozeß, der im Zusammenleben der Völker und Menschen Gewalt, Ausbeutung, Hunger und Unterdrückung beseitigt und die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt beziehungsweise wiederherstellt.

Alle Menschen, Völker und Staaten, auch solche mit gegensätzlichen Ordnungen, Ideologien, Religionen, Interessen etc., sind bei der Sicherung des Überlebens auf Partnerschaft angewiesen. Die existentiellen Gefährdungen, grenzüberschreitenden Verletzlichkeiten und gegenseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten machen neue Regeln des Lebens und des Zusammenlebens unerläßlich. Erforderlich ist eine zwar gegenwartsbezogene, aber zukunftsorientierte Welt-Innen- und Nachwelt-Politik, kurz: eine Weltgesellschaftspolitik.

Wer aber sind die Akteure einer solchen Politik? Wer hat den Überblick? Wer kennt die Vielschichtigkeit und Vernetztheit ihrer Ursachen und ihrer Wechselwirkungen? Wer hat die Kraft, exponentielle Entwicklungen rechtzeitig zu stoppen? Wer kann gigantische Risiken, latente Katastrophen, hyperfristige Folgen in ein rationales Kalkül für Gegenwart und Zukunft zusammenführen? Wer kann unter drastischem Zeitdruck die richtige Entscheidung fällen? Wer besitzt die Legitimation, über Grenzen hinweg zu entscheiden und zu handeln? Überhaupt: Ist die Chance, die Saat des apokalyptischen Wahnsinns noch im Keim zu ersticken, nicht schon längst verpaßt?

Mit diesen Fragen kehre ich zu meinem Ausgangspunkt – der rigorosen Mittelbeschneidung der Friedensforschung – zurück: Ihre Aufgabe ist es, nach den Ursachen von Gewalt, insbesondere von Kriegen, zu suchen und Wege ihrer Überwindung vorzuschlagen. Ob es der Friedensforschung gelingt, beim jetzigen Stand der Entwicklung noch rechtzeitig Antworten auf die angeführten existentiellen Fragen zu finden, muß mehr als skeptisch beurteilt werden. Klar ist allerdings: Je geringer die Mittel für Friedensforschung, desto geringer auch die Chancen einer erfolgreichen Suche nach Antworten. Aber vielleicht sind es ja gerade die Antworten, die nicht erwünscht sind? Dieter S. Lutz

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