: Die Familie ernähren mit elf Mark am Tag
■ Eine Kriegsreporterin von „Moskowskij Komsomolez“ über ihre Arbeit an der Front
Julja Kalinina, Journalistin der auflagenstärksten russischen Zeitung, des Boulevardblatts „Moskowskij Komsomolez“, war vor kurzem in Grosny und ist jetzt wieder dorthin unterwegs. Die 34jährige hat einen Sohn. „Der war dagegen, daß ich nach Grosny fuhr“, berichtet sie. Auch ihre Mutter war nicht einverstanden. „Doch ich ernähre die Familie, also entscheide letztlich ich.“ Für einen Tag in Grosny bekommt sie von ihrer Zeitung 30.000 Rubel, das sind etwa 11 Mark. Die ausgebildete Bibliothekswissenschaftlerin ist Kaukasus-Expertin und war es leid, sich mit dem Thema nur am Schreibtisch zu beschäftigen.
taz: Was war Ihr stärkster Eindruck in Tschetschenien?
Julja Kalinina: Am Anfang verbrachte ich drei Tage auf der russischen Seite in Mosdok, danach fünf Tage auf der tschetschenischen Seite. Der Unterschied der Stimmung, welches Verhältnis die Leute zum Krieg haben, welches Verhältnis sie zu den Journalisten haben, ist sehr groß. Auf der russischen Seite verstehen sie einfach nicht, warum sie dort sind. Bei den Tschetschenen gibt es ein Motiv, sie kämpfen für ihre Freiheit.
Kann man so etwas angesichts der antitschetschenischen Vorurteile bei den Russen schreiben?
Ich habe das geschrieben. Die Reaktion war allerdings nicht sehr angenehm. In der Redaktion stieß mein Artikel auf Kritik. Man solle den Kampf der Tschetschenen nicht idealisieren, hieß es. Obwohl ich nichts idealisiert hatte. Von den Lesern kamen sehr viele Anrufe und Telegramme. Man warf mir vor, ich schützte Räuber und Banditen.
Eines der immer wiederholten Vorurteile gegen die Tschetschenen ist, daß sich Frauen besser vor ihnen in acht nehmen sollen.
Ich habe vier Tage mit tschetschenischen Kämpfern verbracht. Keiner hat mich auch nur mit dem Finger berührt. Die Russen wissen nichts über die kaukasischen Völker. Ich habe manchmal eher Angst vor russischen Soldaten.
Was meinen Sie zu der Story, daß in Tschetschenien blonde baltische Scharfschützinnen in weißen Strumpfhosen gegen die russischen Soldaten kämpfen?
Diese Märchen entstehen, wenn die Männer allein ohne Frauen an der Front sind. Das ist eine sexuelle Phantasie. In jedem Krieg, in Abchasien, in Pridnjestrowien – immer wieder werden solche Geschichten erzählt.
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