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Gebärdete Gedichte

■ Gunter Puttrich-Reignard auf Fotos von Barbara Stauss

Irgendwas paßt nicht in dem Artikel des schwulen Szeneblättchens: „Gunter Puttrich-Reignard sagt“ oder „Gunter erzählt“ heißt es in der Siegessäule über den Mitbegründer der „Verkehrten Gehörlosen“, die nun zehnjähriges Bestehen feiern. Ein Gehörloser „erzählt“? Daß beim Interview die Gebärdendolmetscherin Dina Tabbert mit am Tisch saß, hat der Autor unterschlagen.

Für die Ausdrucksschwierigkeiten eines hörenden Journalisten hat Gunter Puttrich-Reignard nur ein Lächeln übrig. Die Verständigungsprobleme, die er und andere Gehörlose haben, sind von ganz anderen Dimensionen. Was den 35jährigen nicht davon abgehalten hat, als vermutlich erster Gehörloser Lyrik in Gebärdensprache zu übersetzen. Künstlerinnen wie Käthe Kruse oder Françoise Cactus haben für ihn Gedichte geschrieben, die er mit Händen, Mimik, Gesten, ja mit dem ganzen Körper übersetzt. Die Fotografin Barbara Stauss, mit der er seit Jahren zusammenarbeitet, arrangiert seinen Vortrag fotografisch und setzt ihn in Stills um. So ist auch das hier abgebildete „Aus meinem Poesiealbum“ nach einem Gedicht von Susi Pop entstanden.

Gunter Puttrich-Reignard gilt als Motor der „Verkehrten Gehörlosen“ in Berlin, er ist zudem Präsident des neugegründeten Dachverbands. Natürlich war es seine Idee, vor zehn Jahren nach Londoner Vorbild die erste deutsche Selbsthilfegruppe schwuler Gehörloser aus der Taufe zu heben – also relativ früh: Blinde Homos etwa organisieren sich erst seit einem Jahr. „Den Anstoß zur Vereinsgründung gab der Aids-Tod eines gehörlosen Bekannten“, übersetzt Dina Tabbert Gunters Gebärden. Noch heute steht die Aids- Prävention im Vordergrund der 70köpfigen Gruppe, da viele Gehörlose die Schriftsprache nur unzureichend beherrschen, mit den Faltblättern der Aids-Hilfe also kaum etwas anfangen können. In eigenen Räumen der „Verkehrten“ im Gehörlosenzentrum über dem Franz-Club wird außerdem eine Zeitung erstellt, hörende Schwule können Kurse in Gebärdensprache belegen.

„Schwule Gehörlose sitzen zwischen allen Stühlen“, gebärdet Gunter. Beim anstehenden Weltkongreß der Gehörlosen in Wien seien Homo-Themen unerwünscht, in der Szene bilden Veranstaltungen mit DolmetscherIn die Ausnahme. In der Fotografie gebärdeter Lyrik sehen Gunter Puttrich-Reignard und Barbara Stauss eine Möglichkeit, die Kommunikation zwischen Gehörlosen und Hörenden zu erleichtern – die Bilder kann jeder Sehende verstehen. Daß die Verständigung auch im Alltag nicht unmöglich ist, beweist Gunters Job: Er arbeitet im „Kumpelnest“ am Tresen und liest die Bestellungen der Gäste wörtlich von den Lippen ab.

Meist bleiben die „Verkehrten Gehörlosen“ jedoch unter sich. Eine Ausnahme bildete letztes Jahr die CSD-Demo des Aktionsbündnisses, auf der ein kleiner Gebärdensprachkurs auf Handzetteln verteilt wurde. Gunter Puttrich- Reignard reagiert erstaunt: „Davon weiß ich gar nichts. Wir haben allerdings viele Untergruppen, die alle ihr eigenes Ding machen“, so die Gebärden des Vereinschefs. Besser können Gruppen doch gar nicht arbeiten. Micha Schulze

Die Fotos sind bis 2.4., Mi.-So. 14–18 Uhr, im Schwulen Museum, Mehringdamm 61 zu sehen. Eröffnung heute, 19 Uhr.

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