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Die B-Ebene des Bildungsbürgertums

Erfindungsreich präsentierte Museumsdias und zerrissene Plakatwände: Raymond Hains, französischer Prä-Situationist und Mitbegründer des „Nouveaux Realisme“, als „Gast auf der Durchreise“ im Frankfurter Portikus  ■ Von Harald Fricke

Praktische Menschen leben in Frankfurt. Während ein paar Studenten von der Städelschule zwischen Farbtöpfen und Tretleitern eilig die letzten Spuren an den Wänden des Portikus weißen, grüßen sie jeden noch so neugierigen Gast sehr freundlich, der schon am Nachmittag ungebeten in die Raymond-Hains-Ausstellung hereinschaut. Und auch die Kuratorin gibt sich in der Hektik kurz vor Eröffnung unaufgeregt: „Sie finden sich schon zurecht.“ Berliner Museumsmenschen hätten erst mal nach dem Ausweis gefragt oder gleich die Tür gewiesen.

Es ist die erste Retrospektive, die den französischen Prä-Situationisten und Plakatabreißer in Deutschland zeigt. Als 1981 auf der Kölner „Westkunst“-Show eine Bilanz der Moderne gezogen wurde, war Raymond Hains zwar mit einem hallenfüllenden Arsenal bunt beklebter Baustellengitter und Billboards als prominentester Vertreter des „Nouveaux Realisme“ zugegen. Doch seine Fotografien, Filme, Gedichte und Objektcollagen kamen nicht über französische Privatgalerien hinaus. Das Bild blieb unvollständig.

Warum nun Frankfurt? Es mag am Revival des Situationismus liegen, daß der stämmige 69 Jahre alte Franzose mit dem handgeschnitzten Gesicht im Anschluß an die Asger-Jorn-Retrospektive der Schirn-Halle gewürdigt wird. Oder an internen Umständen. Noch immer ist die Finanzierung des Portikus, dem Kasper König als Direktor vorsteht, eine unsichere Angelegenheit. Mit einer Kunst-Auktion im letzten Jahr hat man zwar die Haushaltskürzungen im Bereich Kultur aufgefangen. Aber ein Ausstellungsprogramm, das sich zwischen belgischen Konzept-Artisten und Malerfürsten vom Rhein bewegt, muß sich ständig am Mainstream messen lassen, zumal in einer Stadt, der das interessierte Umfeld fehlt: Die Galerien am Dom haben sich auf Antiquitäten, Sixties-Möbel ebenso wie Jugendstil-Bembel, zweihenklige Biedermeiertassen und reichsdeutsche Puppenhäuser festgelegt.

Streit an den Rändern

Auch auf diese Misere hinter den Bildern hat der französische Künstler situationsbezogen reagiert: Rund um die Schnellbaubaracke mit der klassizistischen Fassadenfront (der Portikus ist die Ruine der im Krieg zerbombten Stadtbibliothek) zeigen hochkopierte Laserprints auf zwölf Werbeplakaten ein paar Teilansichten von den Restaurierungsarbeiten am Louvre. Das Ganze erscheint mehr wie ein mahnendes Beispiel und nicht als ironischer Kommentar zur Musealisierung. Während mitten im Zentrum von Paris das Stadtschloß als bürgerliche Schatzkammer jedweder politischer Couleur funktioniert, wird die zeitgenössische Kunst mehr und mehr an den Rand gestritten.

Drinnen ist die ortsspezifische Plakataktion als Dia-Schau auf vier Projektoren verlängert worden, die nicht im gleichen Takt laufen. Der eine rast, ein anderer holpert. In unregelmäßigen Pausen kommt die Sache zur Ruhe. Dann mischen sich verstreute Aufnahmen von Sehenswürdigkeiten aus dem Frankfurter Stadtbild mit der Bauzaunästhetik des Louvre während des Umbaus vor drei Jahren.

In Paris scheint das Licht über den Tuilerien klarer, die Farben im Gedränge vor der postmodernen Glaspyramide bunter, die Konturen der abgeblätterten Statuen klarer. Dazwischen Kunstmetaphern: Ein Gabelstapler wird zur Staffelei, Marmordeckel, Muttern und Stromkabel zum Arrangement der Minimal art. Frankfurt dagegen wirkt in jedem Winkel grau und verhangen, die Kunstreisenden fehlen. Auf dem Platz vor dem Städel herrscht triste Reglosigkeit, ein anderes Mal gehen die Aluminiumtürme der Deutschen Bank im Grau der Februarwolken unter – die B-Ebene des Bildungsbürgertums. Der Blick, der solches mit der Kamera festgehalten hat, ist vom Material begeistert und touristisch amüsiert. „Scalp“ hat ein Graffiti-Sprayer auf ein Verkehrsschild am Pont-Neuf gesprüht, dahinter kündigen Plakate das Konzert der amerikanosamoanischen HipHop-Gangsta „Boo-Yaa- Tribe“ an. Die Dinge scheinen einander zuzufliegen.

Ab und an taucht der Situationist selbst als älterer Herr mit schütterem silbergrauem Haar vor dem Frankfurter Holbein-Denkmal oder auf Pariser Gassen auf. Er stöbert durch Stadtansichten, als hätte er eben erst Fuß gefaßt in der Metropole. Alles scheint noch wichtig, jeder Schattenwurf erregt seine Aufmerksamkeit. Trotzdem werden die Fotos aus ironischer Distanz päsentiert: Die Dia-Projektoren sind hinter einer Seitentür neben dem Münztelefon aufgestellt. Sie strahlen durch milchige Folie. Hains hat vier Rechtecke aussägen lassen und mit feinen Leisten umrahmt. Sightseeing als erfindungsreicher Gimmick.

Die Povertà der Art paßt ins Gesamtkonzept. Alle Objekte auch im Hauptraum suchen Nischen im Betrieb und nicht den Meistercoup, mit dem sich aus der Moderne schöpfen ließe. In einer Vitrine ist ein verbogenes Drahtgestell aufbewahrt, das Hains seit seiner Jugend als Ready made mit sich schleppt. Der Draht hielt vorher den Beton der deutschen Bunker an der Atlantikküste zusammen. Daneben ein pop-artig vergrößerter Dia-Kasten und zwei in Plastik eingeschweißte Kodak- Filme, im Format 160x80 cm. Die Vorlieben von Hains liegen in den Details der Inszenierung von Gebrauchsästhetik: Auf einer Plexi- Wand wurde der Schriftzug von „Martini“ dekonstruiert, verschwommene Werbe-Buchstaben, die sich wie in Eiswürfeln spiegeln.

Aus einem Malerladen

50 Jahre lang hat Hains das Geschehen an der Hintertür verfolgt. 1926 in St. Brieuc (Bretagne) geboren, geht er nach Kriegsende nur unwirsch bei der Kunst in die Lehre. Es ist sein Vater, der ihn zum Studium der Bildhauerei drängt – er besitzt einen Laden für Malbedarf, und ein Künstler in der Familie hebt das Geschäft. Als der junge Hains 1947 mit Plaktabrissen, „Affiches“, experimentiert, versuchen seine malenden Kollegen in den USA, die Welt nach dem Krieg wieder zusammenzusetzen, subjektiv, wenn auch abstrakt. Ihn interessiert statt dessen das Versprengte und Fragmenthafte zirkulierender Waren und Wünsche, in denen sich die anonyme Rancune gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen widerspiegelt. Wütende Passanten vergehen sich an Reklamen, deren Zerstörung der Alltagsarchäologe Hains als „Nouveaux Realisme“ in Galerien stellt. Zur Biennale 1959, auf der Hains Plakate und Palisaden zeigt, schreibt er: „Der Gedanke ist verführerisch, daß man als Künstler nichts anderes zu tun habe, als Binsenweisheiten zu verbreiten. In den Gesprächen mit Guy Debord entdeckten wir genau das als unser Wirkungsfeld: Auf der Ebene einer ,vordergründigen Wahrheit‘ können wir uns mit den verborgenen Zusammenhängen der Welt beschäftigen.“ Ganz und gar situationistisch hat Hains sich zu dieser Zeit längst mit Debord überworfen. Das Rätsel der verborgenen Zusammenhänge lüftet wie so oft auch bei Hains die Sprache. Seine Arbeiten entstehen durch Assoziation, Kontexte erstellt der Zufall. Entsprechend gibt es in Frankfurt viel zu erzählen und wenig zu sehen. Kant wird dekantiert, Freud als Sprachspiel gelesen. Der Witz bezieht sich nicht allein aufs Unbewußte, vielmehr geht er bei Hains aller Kommunikation voraus. Aus André Malraux' imaginärem Museum wird ein „Musée à Lacan“: Plötzlich liegen „Ich“ und „Heuchler“ im Gedicht nah beieinander, wenige Sätze später heißt es „Gesellschaft, Zelle, Haft“. Draußen weist ein Straßenschild die richtige Adresse: „Schöne Aussicht 2“. Statt Postkarten hat Hains zur Ausstellung Briefmarken drucken lassen.

Raymond Hains: „Gast auf der Durchreise“. Bis 9.4., im Portikus, Frankfurt/M. Katalog: 48 DM.

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