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Nachschlag

■ Keller-Performance in der Aktions-Galerie

Yesims Vater hat früher immer gesagt: „Wenn du Angst hast vor dunklen Kellern, dann gehe hinein!“ So begaben wir uns am Donnerstag abend in ein feuchtes Verließ, die Hand vor Augen konnte man nicht sehen, wie man so schön sagt. Wie alle Besucher, die 13 Mark gelöhnt hatten, irrten wir durch ein labyrinthisches Hausfundament, stolperten über Treppen, verloren die Orientierung: Hänsel und Gretel auf Abwegen. In zehn verschiedenen Räumen hielten sich zehn verschiedene Menschen auf. Alltagswesen, nur geschminkter. Sie lagen vorzugsweise auf den kalten Kellerkacheln, und wie es eine ungeschriebene Performance-Regel vorschreibt, schabten sie mit nackter Haut und verrenkten Gliedern den Boden entlang, wahlweise mit Kohlenschaufel, Spiegelsplittern oder Speichen bestückt. Wir kicherten blöde, wie man eben in Geisterbahnen vor 15 Jahren gekichert hätte, eine Interpretation jagte die nächste. Die Frau mit der Speiche war vermutlich das Opfer eines Unfalls. Die Frau mit den Stricken um Hals, Hände, Bauch und Beine wollte sich sicher seit Jahren schon umbringen, und hat es nie geschafft. (Ob es ihr an diesem Abend gelungen ist, wissen wir nicht, denn Yesim und ich hatten ganz andere Menschen im Sinn.)

Mich erinnerten die am Boden liegenden Lemuren und Zerberusse, der Mann im Vogelkäfig und die Frau im Polyestervorhang entfernt an Fura dels Baus, Yesim fand das alles nur „Kaspar-Hauser-mäßig“. Wir einigten uns schließlich darauf, daß das als Tanzinstallation apostrophierte esoterische Grundseminar „Liebe dich selbst wie deinen Nächsten“ ein Surrogat aus allen in den letzten zehn Jahren performten Kellerstücken sei. Auch die Ernsthaftigkeit, mit der die Endzeitstimmung zu Dschungelmusik zelebriert wurde, war uns ein Indiz für unsere These. Lachen war übrigens verboten, jedesmal ernteten wir böse Blicke von anderen Herumirrenden.

Die Rezeptur der Fabel von den letzten Überlebenden bestand durchweg aus hochsymbolischen Ingredienzen: Ketten, von denen es sich loszulösen galt; Schlüssel, zu denen man kein passendes Schloß fand; Bücher, die niemand lesen konnte, sowie Kerzen zuhauf und das ihnen eigentümliche Licht. „Das darf ja wohl nicht wahr sein“, sagte Yesim und klopfte mir den Kellerstaub von der Jacke. Wir beschlossen, die Ratschläge ihres Vaters künftig und für alle Zeiten zu ignorieren. Thorsten Schmitz

HOR, die Kinder des hermeneutischen Kabinetts. Regie: Marc Ates, noch heute und morgen, 21 Uhr, Aktions Galerie, Große Präsidenten-

Im Keller Foto: Thomas Aurin

straße 10, Mitte.

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