: „Das Kind von der Bekloppten“
■ Von der Normalität noch weit entfernt: Wenn geistig Behinderte Kinder kriegen / Eine Fachtagung an der Bremer Universität
Theoretisch ist alles klar: Natürlich haben geistig behinderte Menschen das gleiche Recht auf Sexualität und Partnerschaft wie Nichtbehinderte. Zwangssterilisation ist ein Relikt aus der Nazi-Zeit und nach dem neuen Betreuungsgesetz ohnehin nicht mehr zulässig. Nur: Wenn dann ein Kind kommt, wird es schwierig.
Dieser Fall ist in unserem Sozialsystem nicht vorgesehen und stellt Betreuungseinrichtungen vor schwierige Aufgaben, und deren MitarbeiterInnen stoßen an Grenzen ihres Bewußtseins. „Als das Baby geboren wurxde war es munter und lebhaft. Und dann muß man feststellen, daß es immer inaktiver wird, einfach weil die Anregung von außen fehlt“, resigniert zum Beispiel Heino Bergmann, Leiter des einzigen offiziellen deutschen Projektes zur ambulanten Betreuung gestigbehinderter Eltern in Berlin.
Soll man, so wie früher, kurzen Prozeß machen und die Kinder in Heime oder zu Pflegeeltern geben? Das kann doch wohl auch nicht sein, befanden die TeilnehmerInnen der Fachtagung „Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung“, die sich jetzt zwei Tage lang an der Bremer Uni die Köpfe heiß redeten über die schwierige Abwägung zwischen dem Recht auf selbstbestimmte Elternschaft und dem Anspruch des Kindes auf eine altersgemäße Entwicklung.
Die Basis bildeten Ergebnisse eines Forschungsprojektes zur Situation geistig behinderter Eltern, durchgeführt von der Bremer Hochschullehrerin Ursula Pixa-Kettner, gesponsert vom Bundesministerium für Familie und Gesundheit und der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte.
Eine statistische Erhebung bei allen Behinderten-Einrichtungen in Deutschland förderte (bei einer Rücklaufquote von 38 Prozent) 699 Elternschaften und 1.366 Kinder zu Tage, so Pixa-Kettner. Vermutlich gibt es tatsächlich mindestens dreimal so viele Eltern und Kinder.
Daß die Elternschaft für geistig behinderte Menschen in absehbarer Zeit eine ganz normale Lebensperspektive sein könnte, hält die Wissenschaftlerin für „traumtänzerisch angesichts der Strukturen in unserer Gesellschaft.“ Was diese Strukturen zum Beispiel für die Kinder geistig behinderter Eltern bedeuten können, erfuhren Pixa-Kettner und ihre MitarbeiterInnen im qualitativen Teil ihrer Untersuchung, der 30 Interviews mit Eltern, Kindern und Großeltern unmfaßte. Es war unter großen Mühen möglich, wenigstens drei (jugendliche oder erwachsene) Kinder zu finden, die sich dazu bekannten, geistig behinderte Eltern zu haben. „Da geht das Kind von der Bekloppten“, hatte sich eine heute 30jährige Frau anhören müssen, die auf dem Lande aufgewachsen war.
50 Prozent dieser Kinder haben keine Freunde, ermittelte Jytte Faurenholm, engagierte Behindertenpädagogin aus Dänemark, die bei der Vorstellung ihrer Arbeit mit Selbsthilfegruppen auf große Begeisterung stieß. Faurenholnms flächendeckende Untersuchung in Dänemark ergab aber auch, daß zwei Drittel der Kinder ohne oder nur mit geringen Problemen aufwachsen. Was nicht zuletzt der wesentlich besseren finanziellen Ausstattung der Eltern durch den Staat geschuldet ist, mit Renten von durchschnittlich 2.500 Mark und einem weitaus größeren Hilfsangebot als hierzulande.
Die statistische Wahrscheinlichkeit, daß die Kinder aus genetischen Gründen selbst behindert werden, ist relativ gering. Eher führen die Anregungsarmut der Umgebung und die Tatsache, daß viele Elternteile aus problembelasteten Familien stammen, also wenig Erfahrungen an positiver Elternschaft mitbringen, zu sekundären Entwicklungsstörungen. Hier vor allem müßten die Hilfen für Eltern und Kinder ansetzen, forderten die TagungsteilnehmerInnen. Die Unterstützung soll sich an den Bedürfnissen der Behinderten orientieren und von diesen möglichst selbstbestimmt eingefordert werden können.
Die Realisierung dieses Anspruchs sei nicht nur eine Frage der Finanzierung, sondern auch des Menschenbildes der betreuenden Einrichtungen und deren MitarbeiterInnen und der zuständigen Behörden, stellte Therese Neuer-Miebach von der Bundesvereinigung der Lebenshilfe abschließend fest. „People like us“ (Menschen wie wir) hatten Behinderte in Dänemark Jytte Faurenholm als Titel ihrer Untersuchung vorgeschlagen – sicher noch ein weiter Weg. Annemarie Struß-von Poellnitz
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