: Das Viereck hinter der Tür
Die nackte Ordnung des Knastalltags: Am Freitag wurde in Leipzig der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene verliehen ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Irgendwie standesgemäß waren wir mit einem taubenblauen Trabbi nach Leipzig gekommen. Hier möchte er nicht begraben sein, meinte Kollege Lerch nach zwei Blicken. Leipzig ist seit Jahren ein einziger Baulärm; Peter Lerch war mal Bankräuber und schreibt inzwischen komische Sachen, und das Hoch „Kasimir“ tat, als wenn es bald Frühling werden würde.
Etwa hundert Journalisten, Gefangeneninitiativler, aktuelle oder gewesene Knackis und ein Vertreter der Ingeborg-Drewitz-Gesamtschule in Gladbeck waren in die sonnen- und lärmdurchflutete Aula der Alten Nikolaischule gekommen, in der am Freitag vormittag zum dritten Mal der Ingeborg- Drewitz-Literaturpreis für Gefangene vergeben wurde.
200 Gefangene aus allen Bundesländern und dem deutschsprachigen Ausland hatten insgesamt über tausend Texte zum diesjährigen Thema – „Widerstehen im Knast“ – geschickt. Neben Gedichten, Kurzgeschichten, Tagebuchaufzeichnungen und Hörspielen wurden auch Romane eingereicht. Ein Gefangener schickte sogar eine sechshundertseitige Autobiographie. Zwar hatten sich lediglich 21 Frauen beteiligt; die Zahl ist dennoch – bei einem Frauenanteil von 5 Prozent in bundesdeutschen Knästen – relativ hoch. Nur der Osten war mit 30 Texten eher unterrepräsentiert.
Der Grußworte und Festreden gab es viele. Wolfgang Margirius, Stadtrat, Superintendent der Nikolaikirche und neben Luise Rinser Schirmherr des Preises, wies darauf hin, daß die Strafgefangenen in der DDR noch stärker als in der BRD ausgegrenzt worden seien. Die Mauer verlaufe nicht zwischen Ost und West, sondern „zwischen den Erfolgreichen und denen, die im Schatten stehen“, sagte der frohe Pfarrer und hoffte, daß die Öffentlichkeit endlich merkt, daß es Leute gibt, die „drinnen“ und solche, die „draußen“ sind.
Der Münsteraner Germanistikprofessor Helmut Koch, Mitglied der Jury und Leiter der „Dokumentationsstelle Gefangenenliteratur“, betonte den literarischen Wert der Texte, denen von der Literaturwissenschaft meist lediglich eine therapeutische Bedeutung zugebilligt wird. Im schockblauen Pullover stellte er die preisgekrönten Texte in eine weltliterarische Tradition berühmter Gefangener wie François Villon, Jean Genet, Arthur Koestler, Nazim Hikmet, Arthur Rimbaud oder Fjodor Dostojewski, der in seinen „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ schrieb, „daß auch das berühmte Zellensystem nur einen (...) äußerlichen Erfolg erzielt. Es saugt dem Menschen den Lebenssaft aus, entnervt und schwächt und ängstigt seine Seele und präsentiert dann die sittlich vertrocknete Mumie, den Halbverrückten als Musterbild der Reue und Besserung.“
Mögen sich die Bedingungen, unter denen Strafgefangene leiden, auch gebessert haben, die Prinzipien von Überwachen, Strafen und Isolation (es gibt Gefängnisse, in denen 70 bis 80 Prozent aller Gefangenen keinerlei Kontakt nach draußen haben) sind die gleichen geblieben. Kenny Berger ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Der 41jährige, der seit achtzehn Jahren in Brandenburg einsitzt, eigentlich Roland heißt und auf seinen Fingern „JÖRG“ eintätowiert hat, baute in seinen Text bruchlos Passagen eines berühmteren Knastschreibers – Wolfgang Borchert – ein. Die Erfahrungen, die beide schildern, sind die gleichen: „Das Viereck hinter der Tür ist meine Zelle. (...) Hier gibt es nichts und niemand und keine Möglichkeit zu Handlung oder Ablenkung. (...) keinen Spiegel zum Zerschmettern, keinen Strick zum Aufhängen, keine Scherbe zum Adernaufritzen – einfach nichts zu haben als sich selbst. Und das ist verdammt wenig.“
Rachegedanke wieder im Vordergrund
„Liest man die Gefangenenliteratur kritisch rückwärts, lassen sich Zitate an Zitate reihen – und sie sind nach wie vor aktuell“, sagte Helmut Koch, der in seiner Rede auch auf die skandalöse Wende im Strafvollzug hinwies, die seit Anfang der 90er Jahre zu beobachten ist. Das Resozialisierungsprinzip werde „de facto aufgegeben“, die Prinzipien von Isolation und Disziplinierung liefen statt dessen auf Desozialisierung hinaus. Man verabschiede sich inzwischen vom offenen Vollzug, der Rachegedanke stehe wieder im Vordergrund, Besuchsregelungen würden verschärft und Gefangenenzeitungen immer häufiger zensiert. Für ihren Widerstand gegen die Zensur bekam die Redaktion der Schwerter Gefangenenzeitung Kuckucksei, die vor knapp einem Jahr ihres Amtes enthoben wurde, einen Sonderpreis verliehen. Auch Michael Jauernik, der im Mai 1990 das Gefängnisdach in Santa Fu besetzte, um auf die Einhaltung geltender Strafvollzugsgesetze zu drängen, wurde für seine Dokumentation der Ereignisse ausgezeichnet.
Der Ehemann der 1986 verstorbenen Ingeborg Drewitz, ein freundlich ergrauter älterer Herr, freute sich „kolossal“, auch diesmal wieder dabei zu sein. Solange man noch an seine Frau denke, die sich wie nur wenige für Strafgefangene eingesetzt hatte, sei sie nicht tot, sagte er und glaubte daran und wahrscheinlich stimmt es ja auch. „Irgendwie“ werde es schon gut sein, „wenn Gefangene sich auf sich selbst konzentrieren“, sagte er, als er die Urkunden an die Preisträger überreichte. Die freuten sich ohne viel Worte, wie Kenny Berger („mir fehlen die Worte“), der in seiner Jeansweste an einen proletarisch-sympathischen Mofarocker erinnerte und nach seiner Haft weiterschreiben will („ich kann ja nichts anderes“), warfen nicht uneitel wie der bärtig langhaarige Anarchist Ralf-Axel Simon, der früher mal die legendäre radikal mitaufgebaut hatte, ein „Gesetzlose aller Länder, vereinigt euch!“ in den Raum – oder lasen wie Peter Lerch und der Schweizer Bruno Heinzer aus ihren Texten. Während Bruno Heinzer, der seine Erfahrungen im spanischen Knast in seinem Buch „Die nackte Ordnung“ beschrieben hat, die Ausweglosigkeit des Eingesperrtseins thematisierte, gelang es Lerch, sich komisch und ironisch von der Erfahrung des Ausgeliefertseins zu distanzieren. Einige seiner Sätze sind sozusagen zeitlos, drinnen und draußen gültig: „Meine Raserei war echt. Mir ging es gut“, schreibt er über sein Randalieren im Knast; „Die Wochen weigerten sich, angemessen zu vergehen“ über den Alltag.
Vielen, wie den drei im Celler Hochsicherheitstrakt einsitzenden Gefangenen, deren Versuch, die Freilassung durch Geiselnahme zu erzwingen, 1991 blutig scheiterte, war von ihren Anstaltsleitungen das Kommen untersagt worden. Die Veranstaltung sei seiner Wiedereingliederung „nicht förderlich“, beschied man auch Robert Doßler, der angeboten hatte, geknebelt und gefesselt zu erscheinen, um etwaige Sicherheitsbedenken zu zerstreuen.
Über drei Stunden zog sich die Preisverleihung hin, zwanglos schloß sich ein Nachmittag an, an dem Regina Merkel von der Gefangeneninitiative Dortmund berichtete, daß sich inzwischen auch „Faschos“ an sie wenden würden. Die ließe man natürlich abblitzen. Am Abend lasen drei Preisträger noch in der Büchergilde Gutenberg. Dann war es Nacht, und die Verbrecher, die man so kennt, flitzten wieder unbeeindruckt über den Bildschirm.
Die Anthologie mit den Preisträgertexten ist unter dem Titel „Gestohlener Himmel“ im Thom Verlag Leipzig erschienen, 230 Seiten, 20 DM.
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