: Weben für Muttis und Kinder
Im Mutter-Kind-Haus Buckow in der Märkischen Schweiz werden Leib und Seele massiert. Jeden Nachmittag wird die Kinderbetreuung zur Muttersache ■ Von Sonja Schock
„Ich sehe mich als Frau, die eine große Kanne in der Hand hält. Mit der renne ich immerzu um den Tisch rum, an dem meine vier sitzen. Immer wenn eine Tasse leer zu werden droht, springe ich hinzu und fülle nach.“ Birgit Schneider* wringt nervös ihre Hände. Ihr Blick ist zu Boden gerichtet, die Wörter kommen stoßweise. Ihr ganzer Körper steht sichtlich unter Hochspannung. Die meisten anderen Frauen nicken zustimmend mit dem Kopf; ihre Bilder sind ähnlich ausgefallen. Die eine betrachtet sich als Cocktail, in dem drei Strohhalme stecken, durch die sie ausgesaugt wird. Eine andere sieht sich als Heldin eines Zeichentrickfilms, in dem Sohn und Mann ihr mit dem Hammer auf den Kopf schlagen. Die Frauen haben es sich in Jogginganzügen auf der Polstergarnitur des Aufenthaltsraumes bequem gemacht. Aus Bayern, Schleswig-Holstein und Sachsen sind sie angereist, um hier, mitten in der Märkischen Schweiz im Mutter-Kind-Haus in Buckow vier Wochen fern von Familie und Haushalt zu verbringen. „Was wäre“, fragt die Psychologin Doris Jansen, „wenn Sie mal aufhören würden, immer nachzufüllen?“ Birgit Schneider zögert: „Ich weiß nicht, vielleicht wären die anderen ja mal ganz froh. Manchmal ist es ihnen sicher zu viel.“ – „Und was ist mit Ihnen?“ – „Ich würde dann nicht von mir aus nachfüllen, sondern warten, bis die anderen auf mich zukommen und etwas haben wollen.“ – „Einfach nur warten, was die anderen wollen?“ – „Ja.“ – „Da hätten Sie doch dann auch mehr Zeit für sich. Was würden Sie damit machen?“ – „Ich könnte mich dann mehr um meine alte Nachbarin kümmern.“
Ihre Sitznachbarin Sybille Weber* sieht sich selbst als „Fels in der Brandung“. „Probleme habe ich damit nicht, ich sehe das eher locker“, ergänzt die kleine drahtige Frau mit einem beinahe trotzigen Blick in Richtung Psychologin. Ob ihr Leben ihr Freude mache, will diese wissen. Sybille Weber schaut zu Boden. Langsam und stockend beginnt sie zu erzählen: „Viel Freude erwarte ich gar nicht. Vielleicht, wenn meine Kinder mal groß sind und nicht mißraten. Darüber würde ich mich freuen. Eigentlich hab' ich mir ja alles ganz anders vorgestellt. Aber ich hab' mir das ja alles rangeholt, und jetzt muß ich eben damit fertigwerden.“ „Alles“, das sind zwei pubertierende Töchter, die sich von der Mutter bedienen lassen, und das ist ein Mann, „der von seiner Mutter verhätschelt wurde und das jetzt auch von mir erwartet“. Außerdem sei er „schnell von Null auf Hundert.“ Sybille Weber redet immer schneller. Das Ventil in ihr, das die Enttäuschungen ihres Lebens bisher offenbar zurückgehalten hat, scheint gebrochen zu sein. Niemand würde ihr jetzt noch glauben, daß sie alles ganz locker sieht.
Die Gesprächsgruppen sind ein fester Bestandteil des vierwöchigen Programms im Mutter-Kind- Haus. Sie sollen den Frauen die Gelegenheit geben, sich auszutauschen, auch über die Schattenseiten ihres Familienlebens. „Manch eine Frau trägt sich bereits mit Trennungsgedanken, wenn sie hierherfährt“, erzählt Doris Jansen. „Sie nutzt dann die vier Wochen, um in Ruhe nachzudenken.“ Wer seine Probleme nicht in der Gruppe bereden will, kann Doris Jansen auch einzeln sprechen. Fast ein Zehntel der Frauen, die sich an die Psychologin wenden, hat Mißbrauchserfahrungen gemacht, deutlich mehr Frauen berichten von Gewalterfahrungen in der Ehe. Die Frauen reagieren mit unterschiedlichen Symptomen: Depressionen, Angststörungen, psychophysische Störungen, Erschöpfungszustände. Immer häufiger kommen Frauen zu Doris Jansen, die unter Platzangst leiden und sich aus Angst vor Panikattacken in der Öffentlichkeit immer mehr in ihre eigenen vier Wände zurückgezogen haben.
Die Häuser des Müttergenesungswerkes versuchen, den vielfältigen Problemen durch eine möglichst ganzheitliche Betreuung gerecht zu werden. Zwar gibt es auch in dem alten Herrenhaus am Ortsrand von Buckow Liegestühle, die bei schönem Wetter auf der Terrasse direkt am See aufgestellt werden. Und auch für kalte Tage sind angenehme Orte zur Entspannung geschaffen worden, etwa das riesige Wohnzimmer mit dicken Polstersesseln und Kamin. Der Schwerpunkt der Kur liegt jedoch schon lange nicht mehr auf der bloßen Erholung. Neben der psychosozialen wird eine umfassende medizinische Betreuung angeboten: Rückenschule und autogenes Training, Entspannungsbäder und Krankengymnastik. Schließlich werden die Kuren von den Krankenkassen finanziert. Nicht nur die Mütter, sondern auch die Kinder werden bei Bedarf behandelt. Da zunehmend Kinder mit Atemwegs- und Allergieerkrankungen in die Mutter-Kind- Häuser kamen, hat sich das Müttergenesungswerk auch auf die medizinische Betreuung dieser Klientel eingestellt. Ein Kinderpsychologe steht in Buckow ebenfalls zur Verfügung. Bei Verhaltensauffälligkeiten versucht er gemeinsam mit der Mutter herauszufinden, wie dem Kind geholfen werden könnte. Auch die beiden Erzieherinnen, die die Kinder vormittags und auf Wunsch auch nachmittags in zwei angrenzenden Blockhäusern betreuen, werden regelmäßig mit den Auswirkungen gestörter Familienbeziehungen konfrontiert. „Viele Kinder sind völlig distanzlos und klammern total“, erzählt eine von ihnen, „sie haben offensichtlich ein völliges Defizit an Zuwendung.“ Auffällig sei auch, daß viele Kinder gar nicht spielen könnten. Manche Kinder wüßten mit dem Spielzeug, daß ihnen angeboten werde, gar nichts anzufangen.
Der allgemeine Hang zum Fernseher hat Heimleiter Hermann Konrad bereits zu einer drastischen Maßnahme greifen lassen. Als er im letzten Sommer bei schönstem Wetter eine Reihe von Kindern vor der Glotze antraf, verbannte er das Gerät kurzerhand aus dem Aufenthaltsraum. Jetzt wird es nur noch herausgerückt, wenn die Frauen einen besonderen Fernsehwunsch äußern. An die frische Luft scheint das die Kinder trotzdem nicht zu bringen. Kurz vor dem alltäglichen Freiluftausflug der Spielgruppen verschwinden sie aus den Blockhäusern, um im Haupthaus herumzutoben. Die meisten halten sich nachmittags an ihre Mütter. Das Freizeitangebot im Haupthaus ist entsprechend: „Malen für Muttis und Kinder, Weben für Muttis und Kinder, Korbflechten für Muttis und Kinder“. Auch nachts sind die Frauen für die Betreuung ihrer Kinder verantwortlich. Sie schlafen gemeinsam mit ihnen in einem Raum – eine Einteilung, die auch die Psychologin nicht glücklich macht. „Aber“, so erklärt sie, „bei einem Tagessatz von ungefähr 122 Mark pro Person war eben nicht mehr drin.“ Pech für die Frauen, die abends noch gerne alleine in den Aufenthaltsraum gehen würden, aber bei ihren Kindern auf Protestgebrüll stoßen. Sie können noch nicht einmal andere Frauen zu sich aufs Zimmer einladen.
„Das ist eigentlich ziemlich ärgerlich“, findet auch Maria Martens*, die deshalb jeden Abend ab acht Uhr zur Zwangsruhe verdonnert ist. Eva Lehmann* dagegen ist froh, einmal viel Zeit für ihre Tochter zu haben. Die Lehrerin aus Dresden, die außerdem noch Aerobic-Kurse anbietet, hat zu Hause selten die Ruhe, ihrer Tochter vorzulesen oder Geschichten zu erzählen. „Jetzt“, so strahlt sie, „singen wir jeden Abend zusammen.“ Für die Zukunft hat sie sich bereits vorgenommen, beruflich etwas kürzer zu treten. Im Mutter-Kind- Haus bietet sie einen eigenen Aerobic-Kurs an. Sie ist ein wenig enttäuscht darüber, daß nur drei Frauen gekommen sind. Sie selbst genießt die vierwöchige Verschnaufpause in vollen Zügen. „Endlich mal kein voller Wäschekorb und kein schmutziger Küchenboden. Statt dessen werde ich bekocht und umhegt. Das ist doch wundervoll!“
Nicht alle Frauen sind derart glücklich. Birgit Schneider etwa freut sich bereits eine Woche im Voraus auf die Heimfahrt. „Hier habe ich ja nur den Kleinsten mit. Die anderen fehlen mir schon.“ Vielen fällt es schwer, nach Jahren der Anspannung einfach abzuschalten und die Zeit für sich zu nutzen. Die Teilnahme an den verschiedenen Kursen und Unternehmungen ist schwankend. Zum Webkurs haben sich heute nur drei Frauen mit ihren Kindern eingefunden. Eine von ihnen ist Sybille Weber. In sich zusammengesunken, mit hängenden Schultern und steinernem Blick, sieht sie vor sich auf den Tisch, wo der Webrahmen liegt. Auf ihm nimmt gerade ein buntes Muster Gestalt an: eine strahlende Sonne vor blauem Himmel.
*Name von der Redaktion geändert
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