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Wie wenn ein Planet nach Österreich stürzt

■ In Wien hatte die Revolte einen Namen: "Vanilla". Oder war es doch nur die Fortsetzung der Kaffeehauskultur?

Wer behauptet, „68“ habe in Österreich nicht stattgefunden, sagt nicht die Wahrheit – oder jedenfalls nicht die ganze: Auch da ist mal was gewesen. Während andere Länder allerdings reiche Selbstzeugnisse von ihren Aktionen ablegten, sogar ein eigenes Genre des professionellen Räsonnierens zum Verhältnis von Gesellschaft, Politik und Individuum hervorgebracht haben (Stichwort: „Was sie wollten, was sie wurden“), läßt sich die Geschichte für Wien – und damit mehr oder weniger für ganz Österreich – am Beispiel eines einzigen Lokals erzählen: des „Vanilla“ in der Strauchgasse.

Es lag zentral, war in den Räumen einer alten Wäscherei untergebracht, wurde von dem stadtbekannten „Sexual-Ehepaar“ Christiane Dertnig und Willi Hopfinger betrieben. Was die Grundausrichtung anbelangt, scheinen zwei eigentlich auseinanderstrebende Tendenzen zu einer glücklichen Synthese gefunden zu haben: der englische Club mit seiner exlusiven Aufnahmepraxis und der radikaldemokratische, nur durch interne Szene-Codes regulierte Hangout, wie ihn in Europa damals schon das Arts Laboratory in London, der Mölkweg in Amsterdam und einige andere Etablissements vorlebten. Wer ins „Vanilla“ wollte, mußte ein Mitglied finden, das für ihn bürgte (nur so bekam man den begehrten Schlüssel), erhielt aber im Gegenzug das kostbare Gefühl, in ein Paralleluniversum einzutreten: eine Kneipe ohne Konsumzwang, mit Zeitschriften und Lesesaal, coolen Styroporhockern, Tischfußball (!), den ganzen heute in jedem Lehrlingsheim üblichen, damals aber umwerfenden Rumlaber- und Kennenlernmöglichkeiten.

Es war, „wie wenn ein Planet nach Österreich stürzt“, schreibt André Heller, damals noch hagerer Jungprovo, in einem sonst angenehm unsentimental gehaltenen Beitrag zu dem Foto-Text-Band, den Christiane Dertnig und Lorenz Gallmetzer über das „Vanilla“ zusammengestellt haben. Und wirklich überrascht, wie voll ausgebildet zu Beginn der Siebziger die gesamte Typologie des Protests sich in dieser Enklave der Wiener Modernität einfand. Das Twiggy-Girl im Minikleid, der Möchtegern-Morrison mit Löwenblick, die entlaufene Tochter aus gutem Hause, der Jungkarrierist, der nix verpassen will, der Spätbohemien im Hasenfellmantel, die Pop-op-Fotografin nebst zugehöriger Knautschlackästhetik, die Thekenfrau mit Schiebermütze, die Künstlerbande (darunter auch Hermann Nitsch, Oswald „Ossi“ Wiener, Günter Brus und Walter Pichler) im späten Godard-Look – alles, aber auch alles, was in Paris, London, Berlin und New York an Attitudes aufkam, fand mit geringer Zeitverschiebung in Wien sein immerhin tapferes Pendant. Sogar Jimi Hendrix – ein Foto beweist's – muß mal durchgekommen sein. Handke ist in einer sehr frühen Version dokumentiert.

Um Legendenbildungen vorzubeugen, haben Dertnig und Gallmetzer neben die Jugendbildnisse von einst Fotos und Texte gesetzt, die die Protagonisten in heutiger Position und Physiognomie zeigen – ein Verfahren, das, wie man hört und liest, in Österreich für einiges Aufsehen gesorgt hat, wenngleich die Geschichte keineswegs trauriger verlief als anderswo. Die Wiener Altachtundsechziger, genauer: Frühsiebziger, sind heute, so sie nicht (das ist die Minderzahl) traurig gescheitert sind, einflußreiche, recht ansehnlich erhaltene Personnagen des Kulturlebens – Architekten, Filmemacher, Chefredakteure, FilmproduzentInnen, SchriftstellerInnen, Kulturverwaltungsangestellte, Attachés jedweder Couleur, die ganze Palette. Was aus Hermann Nitsch, Erika Pluhar, Wolfgang Ambros und Peter Weibel wurde, darf als bekannt vorausgesetzt werden.

Stolz – das dokumentieren die Textteile – scheinen die Wiener auf ihre Ein-Lokal-Revolte mit anschließendem Institutionenmarsch nicht zu sein, sie empfinden es ein wenig als alpenländische Posse. Nichts weiter sei los gewesen als ein barockes Rumhocken, das „jedes potentiell weltverändernde Programm der herrschenden Kaffeehauskultur einverleibt“, schreibt Peter Noever im Begleitwort – was möglicherweise für ein falsches Bewußtsein der wahren Aktualität des „Vanilla“ spricht. Ein bekannter österreichischer Volksspruch lautet: Es muß was geschehen, aber es darf nix passieren. Und klingt das nicht verdammt postmodern? Thomas Groß

Christiane Dertnig/Lorenz Gallmetzer (Hg.): „Vanilla. Ein Lokal und seine Zeit. Wien 1970 - 1974“. Picus Verlag. 168 Seiten, 68 DM.

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