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Mit Jeanne d'Arc nach Grosny

Inguschetiens Hauptstadt Nasran ist ein Sammelpunkt für Flüchtlinge aus Tschetschenien / Jeden Tag fährt von hier ein Bus in die zerstörte Stadt  ■ Aus Nasran Boris Schumatsky

„Kannst du mir ein paar Patronen abgeben?“ fragt Maschid. Der russische Major lächelt verlegen. Sein Kontrollpunkt befindet sich an der nördlichen Grenze der Republik Inguschetien, die immer mehr in den Tschetschenien-Krieg hineingezogen wird. Maschid ist Verkehrspolizist aus Inguschetien, er trägt eine alte sowjetische Polizeiuniform. Beide Uniformierten verstehen sich glänzend, aber der kleine Waffendeal sorgt für Verwirrung. „Weißt du“, drängt Maschid, „meine alte Familienflinte verrostet ungebraucht. Morgen feiern wir Bajram, es wird in die Luft geschossen, einfach so, um böse Geister zu verjagen.“ Doch der Major läßt sich nicht überreden. „Man hat uns Bescheid gegeben“, sagt er, morgen würden sie das Feuer nicht erwidern. Ansonsten schießen die Militärs ohne Warnung, wenn nachts ihre Signalminen losgehen. Bis heute waren es nur Hasen.

Der heilige Monat Ramadan geht zu Ende. Auf den Straßen der inguschetischen Haupstadt Nasran ist der Teufel los. MP-Salven, Einzelschüsse, ab und zu eine Explosion. Leuchtkugeln durchstreichen den dunklen Himmel. „Alles nur Knallbüchsen“, versichert Achmet. „Unser Präsident sagt, diesmal sollen wir still feiern.“ Seine zwei brandneuen Kalaschnikows sind unterm Bett versteckt. Heute abend nimmt er sie nicht in Betrieb. Achmet bewundert seinen Präsidenten Ruslan Auschew. Der Ex-General versucht, das Land aus dem Krieg herauszuhalten. Mehrere Dörfer an der tschetschenischen Grenze sind bereits bombardiert worden, doch die Inguschen lassen sich nicht provozieren.

Tschetschenen und Inguschen nennen sich Wainach. Die Brüdervölker sind Muslime und autochthone Kaukasier, beide wurden 1944 als angebliche Nazikollaborateure in die Steppe Nordkasachstans deportiert. Bis zu Dschochar Dudajews „Nationaler Revolution“ 1991 hatten sie eine gemeinsame Republik. 1992 wurden viele Inguschen aus Nordossetien vertrieben. Auch damals waren russische Panzer beteiligt.

Radima Maguschkowa will ins Gedächtnis der zukünftigen Generationen als Volksheldin eingehen. 1992 gab sich die 34jährige blonde Inguschin für eine Ukrainerin aus, um „unsere Jungs“ vor den Osseten zu retten. Nach dem Konflikt zog sie nach Grosny, mußte aber im Januar wieder fliehen. Wie viele Inguschen ist Radima ein Doppelflüchtling. Heute hat sie sich eine Bescheinigung des Föderalen Notdienstes besorgt und fährt täglich mit einem Bus nach Grosny. Dort betreut Radima Zivilisten, die sich seit Monaten nicht mehr aus ihren Kellern trauen. „Sie sind dermaßen eingeschüchtert“, erzählt sie, „sie zeigen sich nur, wenn sie meine Stimme erkennen.“ Mehrere Keller sollen die Militärs mit Feuerwerfern niedergebrannt haben, aus Angst vor Scharfschützen.

Nachsehen, ob das Haus noch steht

Radimas kleiner Bus ist voll. Tschetschenen, Inguschen, Ukrainer, Russen. Doch keiner will zurück. Eine Russin will ihre Nähmaschine abholen – vorausgesetzt, sie ist noch da. Zwei tschetschenische Flüchtlinge wollen ihren zurückgebliebenen Verwandten zum Bajram gratulieren. Aber die meisten wollen lediglich nachsehen, ob ihre Häuser noch stehen und die Wohnungen nicht von marodierenden Soldaten ausgeraubt worden sind.

Alle haben Angst vor den Militärs. Der Bus hält im Vorgebirge. Eine öde Gegend, von moskautreuen Tschetschenen kontrolliert. Wenige Kilometer weiter stehen die Russen. Magomet, der Fahrer, verlangt Geld, sonst würde er nicht weiterfahren. Zu gefährlich sei es. Dann steigt er aus, der überhitzte Motor muß gekühlt werden. Eine Flasche Wodka taucht auf. „Ein Glas auf den Mut“, bringt Magomet einen russischen Soldatentoast aus. Ein Zeichen der Russifizierung: Muslime saufen Wodka aus der Pulle, sogar am heiligsten Feiertag des Islam. Man versteckt sich bloß hinter dem Bus, aus Respekt vor einem alten Mann. Er ist ausgestiegen und betet auf seinem Mantel kniend am Rande eines Abgrunds.

Am ersten Kontrollpunkt stehen die Omonowzi, Truppen des Innenministeriums, Betonblöcke versperren die Straße, zwei Panzerwagen, eine provisorische Bude. Die 30jährigen Soldaten sind unrasiert, sie tragen unterschiedliche Uniformen, khaki oder grau. Nach drei Monaten Krieg unterscheiden sie sich äußerlich nicht von den gegnerischen Tschetschenen. Radima kennen sie schon. Sie gibt ihnen Medikamente, besorgt auch einiges auf Bestellung: Schmerz- und Beruhigungsmittel. In ihren Augen ist Radima eine Russin. Die Soldaten vertrauen ihr, der Bus passiert unkontrolliert.

Die Stadteinfahrt Grosnys wirkt friedlich. Kilometerlang ziehen sich Einfamilienhäuser hin, ab und zu sieht man eine verbrannte Fabrikhalle oder ein zerstörtes Haus. Viele Leute kehren wieder in die Vororte zurück, zu Fuß, mit großen Rolltaschen. Andre verlassen das Stadtzentrum, wo immer noch geschossen wird. Die Panzerwagen überholen die Flüchtlinge, die Soldaten sitzen auf der Panzerung, die Kalaschnikows schußbereit. Sie hissen rote Sowjetfahnen mit Hammer und Sichel. Keine russische Trikolore weit und breit.

Radima wird nervös. Fast alle sind ausgestiegen. Zweite, dritte und vierte Sperre. Der Bus hält. Das Stadtzentrum ist zerstört und verwüstet. In den Wohnblocks ringsherum fehlen die Fensterscheiben, Brandspuren, Ruinen. Noch irgendwas möchte Radima zeigen, doch der Fahrer traut sich nicht weiter. Es wird verhandelt. Die geschäftlichen Beziehungen zwischen Radima und ihrem Fahrer scheinen kompliziert. Landet das ganze Geld nur beim Fahrer? Radima muß ihre Medikamente ja auch irgendwie bezahlen ...

Verlassene Plattenbauten umstellen einen christlichen Friedhof. Auf dem Weg hierher trifft man keine Passanten, auch Militärs sind nicht zu sehen. Keiner darf es sehen: ein Graben in der Erde, über zwei Meter tief, halbvoll mit Leichen. Männer, auch Frauen, alle in zivil. Dutzende Leichen liegen daneben, von Hunden angefressen.

Der Gestank wird unerträglich. Magomet steigt ein und startet den Motor. Er fährt durch enge Gassen mit geborstenen Bäumen. Hinten knallt ein Schuß, Magomet biegt in einen Hinterhof ein. Irgendwo hier verstecken sich Radimas Protegés, aber heute kann sie sie nicht besuchen: es bleibt kaum noch Zeit bis zur Sperrstunde. „Ich habe noch drei solche Gräben gefunden“, erzählt Radima zu Hause. „Morgen geht's wieder hin.“ Es kommen zwei Tschetscheninnen und bitten sie, die Leiche ihres Vaters aus Grosny zu bergen. Radima notiert die Adresse. Wieso macht sie das? – Um den Menschen zu helfen. „Ich brauche nichts für mich“, sagt Radima. Sie stilisiert sich zur kaukasischen Jeanne d'Arc und Robin Hood in einer Person. Die Wainachen nennen es Jach – Ehre oder Wettbewerb. Viele Leute kennen Radima, die meisten sind ihr dankbar, manche halten sie für eine Abenteurerin. Wie dem auch sei, reich wird sie von ihren Abenteuern nicht: Ihr Haushalt ist der einzige, wo am Bajram kein Tisch gedeckt wurde.

Sogar viele Flüchtlinge „organisieren“ üppige Tische. Drei Feiertage lang wartet man auf die Gäste: Fleisch und Geflügel, Torten und Gebäck, Orangen und Bananen sind bereitgestellt. Abends ist in Nasran Weihnachtsverkehr: jeder besucht jeden. Nur ein relativ kleiner Teil der Flüchtlinge, jene, die keine Verwandten haben, können sich nichts leisten. Sie leben in mehreren Flüchtlingslagern und erhalten 20.500 Rubel einmalige Unterstützung von der russischen Regierung. Das reicht gerade für fünf Packungen Zigaretten oder vier Kilo Bananen. „Wir tun für die Flüchtlinge, was wir können“, sagt der Premierminister Inguschetiens, Mucharbek Didigow. „Wir haben aber 65.000 Flüchtlinge aus Ossetien und jetzt noch 120.000 aus Tschetschenien. Fast die Hälfte der heutigen Bevölkerung Inguschetiens sind Flüchtlinge.“

Die Bedingungen in den Flüchtlingslagern sind furchtbar. Über 1.000 Menschen leben eingepfercht in 16 Eisenbahnwaggons. Kein fließend Wasser, keine Toiletten. „Das sind ähnliche Waggons wie während Stalins Deportation 1944“, sagen die Flüchtlinge verbittert. Viele wohnen bereits drei Monate hier, seit Kriegsbeginn. Manche haben jegliche Hoffnung aufgegeben. Sie glauben weder an einen zukünftigen russischen Rechtsstaat noch an die Unterstützung westlicher Demokratien. „Ich verstehe Sie nicht, Helmut Kohl“, sagt der gewählte Kommandant des Waggonlagers. „Sie sind ein starker Mann, Sie haben die Wiedervereinigung von den Russen erpreßt. Wieso schweigen sie zu Tschetschenien?“

Behinderte Bonn die humanitäre Hilfe?

Die einzige reelle Hilfe aus dem Westen leisten die humanitären Organisationen. Das Komitee Cap Anamur bringt zum zweiten Mal Hilfsgüter und Medikamente für Krankenhäuser in Tschetschenien und Inguschetien. Die Deutschen Not-Ärzte werden einen Stützpunkt an der tschetschenischen Grenze aufbauen. Das Projekt wird von der inguschetischen Regierung unterstützt. Von den Russen wird humanitäre Hilfe lediglich geduldet. Eine Zöllnerin fragte empört: „Wieso bringt ihr Hilfe für Dudajew?“ Sie sieht keinen Unterschied zwischen den Freischärlern und den Flüchtlingen.

Cap Anamur ist aber auch auf mangelnde Unterstützung des Bonner Auswärtigen Amtes gestoßen. Mehr noch, der letzte Transport wäre beinahe daran gescheitert, daß die Visaausfertigung fast einen Monat lang gedauert hat. „In der Regel“, sagt Rupert Neudeck, Präsident von Cap Anamur, „bekommen wir Visa in wenigen Tagen.“ Hinter der Verzögerung beim Auswärtigen Amt könnte das Bundeskanzleramt gesteckt haben, so seine Vermutung. „Für Bonn ist es ein Wunder, daß wir überhaupt angekommen sind.“

Da die Hilfe von außen behindert wird, müssen die Wainach sich selbst helfen. Mehr als hunderttausend Flüchtlinge sind bei Verwandten oder Freunden untergekommen. Der Krieg kennt keine Grenzen: Für die kaukasischen Großfamilien gilt das Gesetz der Blutrache. Mit jeder Provokation, den Bombardements Inguschetiens und Dagestans rückt der große Krieg näher.

Die Bergvölker werden es nie vergessen: die Politik der verbrannten Erde des zaristischen Generals Jermolow, die Stalinschen Deportationen, die Zerstörung Grosnys. Die Stadtbevölkerung hofft noch auf die Solidarität der russischen Soldatenmütter und darauf, daß viele russische Wehrpflichtige ihre Einberufung im Frühling boykottieren werden. Auch Achmet wartet seit langem auf den Frühling. Der 17jährige sagt: „Sobald der Flieder aufblüht, zieh' ich in den Krieg“.

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