: Moskaus omnipotenter Hausgott
Bürgermeister Jurij Luschkow zieht gegen den Kreml vor Gericht / Das Kräftemessen zwischen Boris Jelzin und seinem möglichen Kontrahenten geht in eine neue Runde ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Jurij Luschkow, Moskaus Bürgermeister, zieht vor Gericht. Das macht er alle nas'lang. Gewöhnlich gegen Opponenten, die ihn der Korruption oder anderer nicht ganz legaler Machenschaften beschuldigen. Bisher brauchte er die Gerichte nicht zu fürchten: Jeder Rechtsstreit ging zu seinen Gunsten aus. Der agile Stadtpatron ist eine schillernde Figur, neben der selbst namhafte Sizilianner erblassen. Diesmal beauftragte er gleich zwei Instanzen, Recht zu suchen: Das Verfassungsgericht und das Oberste Gericht der Russischen Föderation. Gegner sind der Kreml und Rußlands etwas einfältiger Innenminister Viktor Jerin. Im Zusammenspiel mit dem Innenministerium hatte Präsident Jelzin die Entlassungen des hauptstädtischen Staatsanwaltes Gennadij Ponomorjow und des Polizeichefs Wladimir Pankrotow verfügt. Anlaß war der Mord an dem bekannten Fernsehmoderator Listjew vor zwei Wochen. Jelzin warf den Sicherheitschefs vor, der ausufernden Schwerstkriminalität in Moskau tatenlos zuzuschauen. Köpfe mußten rollen, um der aufgewühlten Öffentlichkeit zu beweisen, man sei bemüht, der Kriminalität den Kampf anzusagen.
Statt dessen fühlte sich Luschkow auf den Schlips getreten und als der eigentliche Adressat des Angriffs. Er wollte sich mit der Entscheidung nicht abfinden und drohte bereits mit Rücktritt. Formal begründet er sein Vorgehen mit dem verfassungswidrigen Eingriff föderaler Instanzen in die Kompetenzen der Stadt Moskau, der es obliege, ihre Personalentscheidungen selbst zu treffen. In der Hauptstadt sorgte die Rücktrittsdrohung für erhebliche Turbulenzen. Denn wer, wenn nicht er, brächte die Baustellen rechtzeitig zu den Feiern des 50. Jahrestages des Sieges über den Faschismus von den Straßen? Sicherlich gäbe es andere, doch der seit Jahr und Tag gepflegte Mythos – Luschkow als omnipotenter und treusorgender Hausgott – hat schon verfangen. In der Tat waltet Luschkow in Moskau wie ein Doudezfürst, ohne dessen Placet sich nichts bewegen läßt. Auch der Unterstützung der orthodoxen Kirche darf sich der streng Gläubige sicher sein. Unlängst legte er den Grundstein zur Wiedererrichtung der unter Stalin abgerissenen Erlöserkathedrale. Ein kostspieliges Geschenk der Stadt an den Klerus. Derartige Kapriolen nehmen die Moskauer ihm nicht übel. In Blitzumfragen nach seiner Rücktrittsandrohung sprachen sich 82 Prozent für einen Verbleib im Amt aus. An Popularität hat er selbst den einstigen Volkshelden Boris Jelzin weit abgeschlagen. Bestimmte Kreise um Jelzin befürchten, der populäre Stadtvater könnte bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu einem ernst zu nehmenden Rivalen avancieren. Ambitionen auf die Führungsrolle im Land weist der Staatschef jedoch strikt von sich. Außer für Jelzin, dem er ergeben durch dick und dünn folgte, ergriff er öffentlich nie Partei. Als Jelzin im Herbst 1993 das obstinate Parlament auseinanderjagte, ließ der Stadtherr an seiner Loyalität zum Kremlchef nicht den Deut eines Zweifels aufkommen. Jelzin bedankte sich im Gegenzug mit Sondervollmachten. Doch vor allem schützte er den Bürgermeister vor dem Zugriff des damaligen Privatisierungsministers Anatolij Tschubais, der das Eigentum der Stadt unter den föderalen Hammer bringen wollte. „Wir werden Tschubais nicht erlauben, Rußland für einen Hungerlohn auszuverkaufen“, wütete der Stadtvorsteher damals. Er selbst schrieb den Entwurf eines präsidentativen Privatisierungsdekrets für Moskau. Die städtischen Betriebe danken es ihm bis auf den Tag und protestierten gegen die jüngste Entscheidung aus dem Kreml. Die Föderation der Moskauer Gewerkschaften schloß sich umgehend an.
Luschkow wird Kompromißbereitschaft und Vermittlungsgeschick nachgesagt und nicht zuletzt eine gehörige Portion Populismus. Den Rentnern garantiert er freie Fahrt im öffentlichen Verkehr, verschafft ihnen geringfügige Zuschüsse und kümmert sich um die Versorgung der Hauptstadt mit erschwinglichen Lebensmitteln, Kartoffeln und Fleisch, die in staatlichen Läden vertrieben werden.
Den xenophoben Mitbürgern dient er sich an, indem er restriktive Maßnahmen gegen Besucher aus ehemaligen Sowjetrepubliken anordnet. Obwohl in Rußland das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes besteht, hält er in Moskau rigoros am alten Zuzugsverfahren fest. Kioskbesitzer vertreibt er von ihren Standplätzen im Interesse der städtischen Hygiene, Ladenbesitzern schreibt er vor, ihre Auslagen zu beleuchten und lateinische Reklameschilder in kyrillische zu verwandeln. So etwas bringt auch Zuspruch der Nationalisten: „Hier ist jemand, der nicht nur redet, sondern im Interesse Rußlands handelt.“ Dabei hat sich während seiner Amtszeit Moskau in ein Finanzimperium gewandelt. Nach Angaben der Zeitung Nowaja Eschednejwnaja Gaseta besitzt die Stadtregierung unter Luschkow zig Industriebetriebe, mehrere hundert Hektar teuerste Baufläche und gründete an die 180 Gemeinschaftsunternehmen.
Hinter Luschkow stehen in der Tat einflußreiche Finanzkreise der Gruppe Most mit Immobilienfirmen und Banken. Der unabhängige Fernsehsender NTV und die liberale Tageszeitung Segodnja gehören ebenfalls zum Imperium. Man munkelt, sie wollten Luschkow zum Präsidentschaftsanwärter aufbauen, aus dem ehemaligen Protegé Jelzins würde ein Rivale. Jelzins Sicherheitschef Korschakow startete daher im Dezember die ersten Angriffe gegen den Konzernchef und indirekt gegen den Bürgermeister. Seine Leibgarde umstellte die Büros der beiden, die im selben Hochhaus beheimatet sind. Dann wurde ein bißchen zugeschlagen. Jetzt geht das Kräftemessen in eine neue Runde. Luschkows Chancen, die Provinzen hinter sich zu bringen, sehen eher mager aus. Doch wer geschlagen wird, erlangt Ruhm. Die Superstrategen im Kreml schaden nun ihrem Chef, dessen Amtszeit sie eigentlich verlängern wollten.
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