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Das Desaster und die Rückzugslinien

■ Die türkische Regierung erklärt die Istanbuler Unruhen mit gezielten Provokationen des griechischen Geheimdienstes. Beweise bleibt sie schuldig.

Wenn der türkischen Regierung gar nichts mehr einfällt, gibt es immer noch eine erprobte Rückzugslinie: Der griechische Erzfeind ist schuld. Nach vier Tagen blutiger Auseinandersetzungen in Istanbul, Ankara und Izmir, in denen sich vor allem die Polizei durch tödliche Schüsse gegen Demonstranten hervorgetan hatte, orakelte die türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller von „äußeren Herden“, die die Unruhen „geschürt“ hätten. Ein großer Teil der türkischen Zeitungen übersetzte die Andeutungen von oben auch gleich in der gewünschten Weise. Das Boulevardblatt Sabah wollte von Dokumenten wissen, aus denen hervorginge, daß der griechische Geheimdienst „hinter den Terrorereignissen“ stehe, und die auflagenstärkste türkische Zeitung Hürriyet berichtete, Çiller habe bei Beratungen im Nationalen Sicherheitsrat die griechische Regierung offen der Anstiftung des Aufruhrs der Alawiten bezichtigt.

Diese Beschuldigungen können allerdings über das Desaster für die türkische Regierung nicht hinwegtäuschen. Andere Zeitungen, wie die linksliberale Cumhurriyet, insitierten darum auf der Verantwortung des türkischen Innenministers Nahit Mentese, der nicht durchsetzen konnte oder wollte, daß die Polizei sich mit dem Einsatz von Schußwaffen zurückhält. Der Rücktrittsforderung scheint Tansu Çiller jedoch nicht nachkommen zu wollen. Eine Krisensitzung des Kabinetts in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ging ohne Ergebnis zu Ende.

Unterdessen hat sich die Situation auf den Straßen wieder etwas entspannt. Am Donnerstag wurde die Ausgangssperre in Istanbul teilweise wieder aufgehoben. Für Ruhe sorgt jetzt das Militär, nachdem sich die Polizei dazu als komplett unfähig erwiesen hat.

Mit dem Verweis auf Griechenland versucht die türkische Regierung auch eine außenpolitische Schadensbegrenzung. Das Motiv der griechischen Regierung, so legen die Äußerungen Çillers nahe, sei es, die Verabschiedung der Zollunion zwischen der Türkei und der Europäischen Union im Europaparlament zu verhindern. Tatsächlich haben in den letzten Tagen die Sprecher aller wichtigen Fraktionen des Europaparlaments dagegen protestiert, daß der Ministerrat entgegen der Empfehlung des Parlaments den Vertrag über die Zollunion am 6. März mit der Türkei unterzeichnet hat. „Blanker Hohn“ und eine „völlige Mißachtung des Parlaments“ sei dieser Schritt, empörte sich die Sprecherin der Sozialisten, Pauline Green. Die Abstimmung über die Zollunion soll nach der jetzigen Planung erst im Herbst stattfinden.

Anschläge auf türkische Geschäfte in Deutschland

Ob die Anschläge auf türkische Reisebüros und andere türkische Einrichtungen, die sich auch in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag fortsetzten, direkt mit den Auseinandersetzungen in der Türkei zu tun haben, ist nach wie vor unklar. Während der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Eckart Werthebach, behauptet, es gäbe Indizien, daß es sich bei den Anschlägen um eine Aktion der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) handelt, wurde dies in verschiedenen Landesämtern des Verfassungsschutzes nicht bestätigt. „Es kommen verschiedene Tätergruppen in Betracht“, hieß es dort. Die insgesamt acht Brandanschläge auf Reisebüros, Kulturzentren und ein Islam-Zentrum richteten insgesamt keine größeren Schäden an, weil entweder die Feuerwehr oder aber Nachbarn der Einrichtungen rechtzeitig löschen konnten. Zweifelsfrei eine kurdische Aktion war gestern der Versuch, das türkische Generalkonsulat in Frankfurt zu stürmen. Die Demonstration richtete sich gegen die Aufhebung des Abschiebestopps für Kurden. Nach Angaben der Polizei hätten kurdische Demonstranten Steine und Farbeier geworfen, woraufhin die Polizei Wasserwerfer einsetzte und zahlreiche Kurden festnahm. Jürgen Gottschlich

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