: Das KaDeWe lag mal in Petersburg
Ein literarischer Stadtspaziergang durchs ehemalige „Charlottengrad“. Einige Erläuterungen von ■ Jörg Plath
Das Heimweh steht einem „ein ganzes Leben lang als verrückter Begleiter zur Seite“ schreibt Vladimir Nabokov im Nachwort zu seinem ersten Roman. „Maschenka“ war 1926 im Emigrantenverlag „Slovo“ in Berlin erschienen, der ersten Station seines fast lebenslangen Exils – natürlich auf russisch. Denn Nabokov war einer von 360.000 Russen, die 1923 in „Charlottengrad“ lebten.
In diesen fast vergessenen Stadtteil führt ein neuer literarischer Spaziergang von „Stattreisen Berlin“. Die Zeitläufte machen ihm ordentlich zu schaffen: „Unser Dilemma ist“, sagt die Stadtführerin Annemarie Franke zu Beginn am Wittenbergplatz, „daß fast nichts mehr da ist.“ Die Wohnhäuser in Wilmersdorf, Charlottenburg und Schöneberg, den bürgerlichen Vierteln der nach Westen wandernden Stadt, sind zerstört, die Pensionen in den Altbauwohnungen gibt es nicht mehr, die Bibliotheken, Cafés, Galerien, Tanzdielen und Kabaretts wurden spätestens in der Nazizeit aufgelöst.
Um so literarischer fallen die nächsten zweieinhalb Stunden aus. Aus den Texten der Emigranten, aus Fotos und Annoncenseiten russischer Zeitungen in Berlin erstehen Teile von „Charlottengrad“ zwischen Wittenberg-, Nollendorf- und Viktoria-Luise-Platz wieder auf. Schließlich widmen sich die 45. Festwochen im Herbst „Moskau- Berlin/Berlin-Moskau“. Da möchte man bei „Stattreisen“ nicht nachstehen. Zu kurz kommen während des Spaziergangs allerdings die ökonomischen Hintergründe der russischen Einwanderung, zu oft sind Zitate von immer denselben fünf Autoren zu hören, zu wenig wird die schiere Quantität sowie der „überdurchschnittlich hohe Kulturkoeffizient“ (Nabokov) dieser Emigrantengruppe deutlich. Eines der wenigen erhaltenen steinernen Zeugnisse „Charlottengrads“ ist das Haus Wittenbergplatz 3a, in dem der Slovo- Verlag seinen Sitz hatte. Hinter Slovo stand der Ullstein Verlag, in dem zwei Jahre nach der russischen Ausgabe die deutsche Übersetzung von Nabokovs „Maschenka“ erschien. Ökonomisch waren die 700.000 Russen im Deutschen Reich also auch für deutsche Unternehmen interessant.
Persönliche Kontakte zwischen Russen und Deutschen gab es kaum. Viele Deutsche lernten die Russen bestenfalls als Taxifahrer oder als Portiers kennen. „Wir leben zwischen den Deutschen wie ein See zwischen seinen Ufern“, bemerkt Viktor Sklovskij in seinem Anti-Roman „Zoo oder Briefe nicht über die Liebe“. „Und hört man auf einmal deutsch“, assistiert Andrei Bely, „ist das Staunen groß: Wieso? Deutsche? Was haben die in ,unserer‘ Stadt zu suchen?“
,Ihre‘ Stadt haben die Russen nicht geliebt. Wie ein „großer Bahnhof“ (Ilja Ehrenburg) oder wie eine „Karawanserei“ (M. Chagall) erschien ihnen Berlin, „kurfürstendammig und langweilig“ (Bely). Sie war nur die „Stiefmutter unter den russischen Städten“ (Chodasevic), schließlich hielten sich die meisten Russen nicht freiwillig in Berlin auf. Die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg hatten sie in diese „westlichste Stadt des Ostens und (...) östlichste Stadt des Westens“ (Nikolai Berdjajew) gespült. Offiziere der Weißen Armee, enteignete Großgrundbesitzer, Geschäftsleute, politische Emigranten und Intellektuelle bildeten eine bunte Mischung, die zeitweise von sechs Banken, 87 Verlagen, drei Tageszeitungen und 20 Buchhandlungen versorgt wurde, Armenspeisungen organisierte sowie Notunterkünfte, Schulen und Kirchen unterhielt.
Petersburg lag damals am Wittenbergplatz, die Tauentzienstraße war der Kuzneckij Most. Allein in der Passauer Straße gaben sich ein Stelldichein: ein russisches Delikatessengeschäft, eine russische Bar, der Verein russischer Immigranten, das russische Modehaus „Petersburg“, eine russische Pension und eine russische Leihbibliothek. Die Russen, berichtete Bely, kauften im teuren KaDeWe am Wittenbergplatz ein; die Deutschen wichen in den „billigen Jakob“ am Alexanderplatz aus. Die relative Stärke des Rubels während der Hyperinflation im Deutschen Reich erlaubte den Russen für einige Jahre ein komfortables Dasein.
Häufig lebten sie in Pensionen, die eigentlich Wohnungen waren. Doch deren Mieter bewohnten nur noch ein oder zwei Räume, um die Miete bezahlen zu können. Eine Majorswitwe in der Motzstraße vermietete Nabokov und seiner Frau zwei Zimmer. Andrei Bely hatte Pech: Ein Bekannter nahm den Neuankömmling in Berlin zwar mit auf in sein Pensionszimmer, doch bedeutete er ihm, leise zu sprechen: Auf der anderen Seite der dünnen Wand lag ein politisch verfeindeter Russe.
Meist gingen sich die verschiedenen Fraktionen aus dem Weg, ebenso wie das alte und das neue Rußland. Treffpunkte waren bloß das „Haus der Künste“, Kurfürstenstraße 75, und das Café Leon am Nollendorfplatz, wo einmal in der Woche der russische „Schriftstellerclub“ zusammenkam. Während um die Ecke in Erwin Piscators Metropol-Theater russische Agitpropgruppen wie die „Blauen Blusen“ auftraten, boten die Kabaretts der russischen Emigranten, zum Beispiel der „Blaue Vogel“ in der Goltzstraße, eher Nostalgisches, Unpolitisches, eben „kleine blaue Wunder“.
Kein Wunder, sondern die Weltrevolution erwartete Larissa Reissner in Deutschland. Die Kommunistin fand die kleinbürgerliche Vertikowelt des Arbeiters und schrieb sich ihre Enttäuschung in bitteren Reportagen vom Leib. Reissner, El Lissitzky, Tretjakow und andere Vertreter der neuen russischen Intelligenz hatten keine Schwierigkeiten, Kontakte zu den revolutionsbegeisterten deutschen Intellektuellen zu bekommen; der Malik Verlag der Brüder Herzfelde/Heartfield und George Grosz' veröffentlichte in der Passauer Straße Wladimir Majakowski, Alexander Blok und Alexandra Kollontai. Es war wohl kein Zufall, daß 1970 das Programmkino „Arsenal“ inmitten des alten russischen Wohnviertels mit einem Revolutionsfilm eröffnete, Dowtschenkos „Arsenal“.
Dagegen verdüsterte sich das Klima für die „Charlottengrader“. Die außenpolitische Annäherung des Deutschen Reichs an das sozialistische Rußland mit dem Rapallo-Vertrag 1922 nahm einigen von ihnen die revanchistischen Hoffnungen. Das Ende der Inflation 1923 ließ den Wert des Rubels sinken. Die meisten Russen zogen weiter nach Paris, einige kehrten zurück. „Ich kann in Berlin nicht leben“, schrieb Viktor Sklovskij an das ZK. „Laßt mich nach Hause.“ Eine kleine russische Kolonie gab es bis in die vierziger Jahre in Berlin. Und heute wird die Zahl der Russen wieder auf 100.000 geschätzt. Doch von „Berlinograd“ kann keine Rede sein.
Der nächste Spaziergang findet am 20.3., statt. Anmeldung: Stattreisen Berlin, 455 30 28.
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