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Mächtige allegorische Schichttorten

Auf der Musik-Biennale 95 in Berlin wurde das Publikum mit sehr viel Bedeutung bombardiert  ■ Von Christine Hohmeyer

Lautere Klänge und sehr viel Stille: Der Reiz der neuesten Musik zur 15. Musikbiennale in Berlin zeigte sich in der Vielfalt, in monumentalen Orchesterdramen ebenso wie in Solominiaturen oder reduzierten Innerlichkeitsstudien. Vom musikalischen Welttheater bis hin zu nihilistischer Antikunst waren die unterschiedlichsten Strömungen der zeitgenössischen Musik vertreten, postmodern durcheinandergemischt.

Als exemplarischer Vertreter dieses Stilgewimmels stand Bernd Alois Zimmermann im Mittelpunkt einer Sechziger-Jahre-Retrospektive. Zimmermann, der zu Lebzeiten nahezu unbeachtet blieb, kommt ähnlich wie Erwin Schulhoff jetzt schwer in Mode, weil er schon polystilistisch arbeitete, als es das Wort noch gar nicht gab. Dennoch erwies sich diese Retrospektive als der enttäuschendste Teil der Biennale. Das „Requiem für einen jungen Dichter“, groß angekündigtes Spektakel, blieb auch unter der Expertenhand von Michael Gielen ein unbewältigter Brocken. Mag sein, daß die wuchtige Akustik des Konzerthauses die Gleichzeitigkeit der Ereignisse nicht verkraftet hat, weshalb die vielen Sprach-, Musik- und Geräuschschichten des „linguals“ zu einem nicht verdaulichen Brei verpappten. Vor allem aber ist die Einsicht schmerzlich, daß auch diese Bekenntnismusik in ihrem Engagement ohnmächtig bleibt. Eineinhalb Stunden wurde das Publikum von zwei Balkonen herunter mit Bedeutung bombardiert. Begeisterter Applaus, doch die Konfrontation mit Inhalten fand nicht statt.

Ein weiteres Monumentalwerk war das von Vinko Globokar uraufgeführte „L'Armonia Drammatica“ für Chor, Orchester und sieben Solostimmen. Kryptisches Welttheater, wie eine mächtige Schichttorte zusammengesetzt aus disparaten Dialogen und allegorischen Geschichten. Ähnlich der ersten Sinfonie von Alfred Schnittke vollzieht sich der Aufbau allmählich. Doch kaum sind alle Solisten beteiligt, löst sich das Orchester in kollektivem Chaos auf. Globokar, dessen charmante Gaunereien mit der Posaune im Soloabend unvergleichlich sind, hat hier ein bedeutungsschwangeres Werk vor seinem ermatteten Publikum aufgetürmt, für das man mehr als zwei Ohren brauchen würde.

Die eigentlichen Innovationen dagegen fanden fernab der Materialschlachten statt, wie so oft in der Kammermusik oder in interdisziplinären Projekten. Oft wurde Klang in Szene gesetzt und durch Gestik, Raum oder Licht erweitert. Die überzeugendste Inszenierung von Musik vollbrachte das Ensemble Modern mit dem Stück „Self-Liberator“ von Helmut Oehring. Die Musik, in einer skurrilen Besetzung angereichert durch Sampler, singende Säge und E-Gitarre, wurde durch Gebärdensprache zweier gehörloser Solistinnen erweitert. Hier blieb die szenische Umsetzung von Text nicht allein künstlerisches Prinzip, sondern wurde zum kommunikativen Mittel, zu einer Brücke zwischen den Gehörlosen und den Musikern, die Teile der Gebärdensprache in ihr Ausdrucksvokabular übernahmen. Zeitweise drängte sich die Musik mit einem irrwitzigen Beat in den Vordergrund, zu dem die Solistinnen wie im Breakdance ihre Rede formten.

Ansonsten ist die Avantgarde eher still geworden. So gab es eine Häufung neuester Musik, die sich in die Alchimie der Klänge, in die Dialektik von Stille und Geräusch selbstgenügsam vertiefte. Sven- Åke Johanson gab mit dem Solostück für Combo-Schlagzeug „Klingend und festgehalten“ eine brillante und witzige Studie über verhinderte Klänge, gestörte Schwingungen und festgehaltene Musik. Auch „Gongfluß“, ein Kammermusikwerk des philippinischen Komponisten Conrado del Rosario, war spannende Kommunikation mit Klängen jenseits der ausgespielten Töne. Ein leiser Rhythmus, auf den Klappen der Querflöte gespielt, beantwortet von einer gezupften Geige, und die Musik verschwindet hinter dem Horizont des Hörbaren. Minimale Nuancen, exzellent hörbar gemacht und spannend gespielt vom Emsemble Recherche.

In seiner sehr stillen Art ein ungeheurer Publikumsschocker wurde „mini mal!“ von Hans-Joachim Hespos. Eine Frau besteigt einen Hochsitz. Gelegentlich rasselt sie mit einem Sistrum – sonst passiert nichts. Nach 15 Minuten steigt sie wieder herunter. „mini mal!“ ist inszenierte Stille, die ZuschauerInnen bleiben mit sich und ihrem Pulsschlag allein. Dies scheint auch vierzig Jahre nach John Cage noch einen Affront zu bedeuten, beleidigender als jede Anklage und verunsichernder als jede Aktion. Schon nach wenigen Sekunden der Stille kamen die ersten nervösen Zwischenrufe.

Das Abschlußkonzert mit dem Deutschen Symphonie-Orchester schließlich zeigte mit zwei Uraufführungen noch einmal die Polaritäten der neuesten Musik. „Die Rückseite der Tage“ hieß die Schlußmusik von Johannes Kalitzke, vier Orchesterstücke mit Sopran und Tonband. Was im Titel wie sinnlich surreale Verheißung erscheint, entpuppte sich indessen als greller Neo-Bombast, als programmatisch zugekleistertes Welttheater im Miniaturformat. Auch Steffen Schleiermacher gab mit „Klang und Stille“ einen programmatischen Fingerzeig. Doch seine Musik, die sich in epischer Langsamkeit naiv entfaltete, entführte aus dem Weltgetümmel in die Weite befreiter Zeit. Musik der Stille wird, in der Verweigerung des alltäglichen Getöses, wirkungsvoller als jedes noch so schlaue Programm.

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