: Eine Operation ohne Narkose
„Notprogramm“ für Mexikos Wirtschaft ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid
Er selbst sei von der Verwundbarkeit der mexikanischen Wirtschaft „überrascht“ gewesen, bekannte Ernesto Zedillo vor kurzem freimütig gegenüber der New York Times. Eine „moderate Rezession“ kündigte der neue Präsident, immerhin gelernter Ökonom, seinen Landsleuten an und bat um „Opferbereitschaft“ und „Disziplin“ bei der Durchführung seines „Notprogramms“, das den anhaltenden Peso-Absturz bremsen und den wirtschaftlichen „Kollaps“ abwenden soll. Zusammengebraut ist die Anpassungsmedizin nach bewährtem Rezept: kurzfristige Stabilisierung der Finanzen auf Kosten von Kaufkraft und Produktion.
Dabei ist der Kollaps längst eingetreten. Um 130 Prozent seines Wertes hat der Peso in knapp drei Monaten eingebüßt, Tausende von Betrieben haben seit Jahresanfang dichtgemacht, eine halbe Million Menschen ihre Arbeit verloren. Und in den nächsten Wochen werden die Preise für verschiedene Produkte um bis zu 50 Prozent ansteigen. Die Kreditzinsen haben längst die 100-Prozent-Grenze überschritten, Kreditkartenbesitzer müssen mittlerweile 177 Prozent für die Überziehung ihrer Kontos berappen. Um kurzfristig liquide zu bleiben, wirft die Regierung inzwischen wieder die berüchtigten zweiwöchigen Wertpapiere auf den Markt und zahlt den Anlegern dafür fast 100 Prozent Zinsen. Auf diese Weise, so der Wirtschaftskolumnist Carlos Fernández Vega, werde die Finanzspekulation zusätzlich angeheizt.
Diese „wirtschaftliche Notlage“ soll nun mit einem Maßnahmenpaket überwunden werden, das die Wirtschaftszeitung El Financiero schlicht als „Operation ohne Narkose“ bezeichnet. Und ob die MexikanerInnen wieder einmal die paradoxe Logik akzeptieren, daß die Inflation gestoppt werden soll, indem zunächst einmal alles teurer wird, ist zur Zeit mehr als zweifelhaft. Die Gebühren für Strom und Gas steigen um 20 Prozent, für Benzin müssen AutofahrerInnen ab sofort ein Drittel mehr bezahlen, die Staatsausgaben werden um knapp 10 Prozent gekürzt, die Mehrwertsteuer wird um 50 Prozent erhöht. Am Wochenende segneten Senat und Kongreß die Erhöhung mit knapper PRI-Mehrheit ab – erstmals mit Gegenstimmen aus dem eigenen Lager.
Bei der Aussicht auf 25prozentige Einkommensverluste ist es für die arbeitende Bevölkerung ein schwacher Trost, wenn auch die gesetzlichen Mindestlöhne um 10 Prozent auf 17 Pesos – zur Zeit etwa 3,50 Mark – am Tag steigen sollen. Denn die Inflation, die letztes Jahr auf ein Rekordtief von 7 Prozent gedrückt werden konnte, wird bis Ende 1995 mindestens um das Sechsfache steigen. Nach offiziellen Schätzungen wird das Sozialprodukt um zwei bis fünf Prozentpunkte schrumpfen und, so rechnen Gewerkschafter vor, mindestens drei Millionen MexikanerInnen dürften zum Jahresende ohne festen Arbeitsplatz sein.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren wird die bittere Medizin der Bevölkerung ohne den konzertierten Segen von Unternehmern, Staatsgewerkschaften und Bauernverbänden verabreicht. Seit 1987 trafen sich diese Sektoren der Staatspartei PRI alljährlich zum „Pacto“, um sich auf Löhne, Preise und wirtschaftspolitische Leitlinien zu einigen und so die soziale Verträglichkeit der neoliberalen Modernisierung zu gewährleisten. Das ist nun vorbei. Nicht nur linke Oppositionspolitiker wie der ehemalige Präsidentschaftskandidat Cuauhtmoc Cárdenas rufen zum Widerstand gegen das Sparprogramm auf. Auch der Vorsitzende der konservativen PAN-Partei, Carlos Castillo Peraza, bezeichnete das Paket als „hart und grausam“.
Nach einer Umfrage der Tageszeitung Reforma befürworten gerade mal 20 Prozent der Befragten das Krisenmanagement ihres frischgekürten Präsidenten. Selbst der greise Gewerkschaftsboß Fidel Velazquez, seit vielen Jahrzehnten Garant der PRI-Hegemonie in der mexikanischen Arbeiterbewegung, zeigte sich irritiert: die Basis sei derart aufgebracht, so Don Fidel, daß man dieses Jahr möglicherweise sogar den Aufmarsch zum 1. Mai abblasen müsse.
Noch bedrohlicher als murrende Gewerkschaften oder Aufstände der Armen jedoch ist für die Zedillo-Regierung der Unmut des Mittelstands. Die Aufstiegsorientierung der Selfmade-Unternehmer, die die wirtschaftliche Modernisierung der letzten Jahre trotz aller Furcht vor der Konkurrenz aus dem Norden begleitete, dürfte mit dem Schockprogramm endgültig gebrochen sein. Überall im Lande brodelt es. In verschiedenen Teilen der Republik drohen Klein- und Mittelunternehmer schon jetzt mit Steuer- und Zinsstreiks. Auch Gebühren für Wasser, Strom und Beiträge zur Sozialversicherung wollen unzählige Geschäftsleute künftig verweigern.
Bei Protestaktionen kommt es schon mal zu ungewöhnlichen Allianzen. So gingen letzte Woche in der nordmexikanischen Industriestadt Monterrey Hunderte von Hausfrauen der mittleren und oberen Zehntausend gegen die „Dummheit“ der Regierung auf die Straße. Im Zentrum trafen sie auf ein paar tausend Mitglieder der linken „Volksfront“. Zusammen mit den aufgebrachten Damen beschuldigten sie dann lautstark die „korrupten Politiker“ des Ausverkaufs nationaler Interessen.
Ein Dé-jà-vu des großen Knalls von 1982, als Mexiko mit seiner Zahlungsunfähigkeit die Weltfinanzen ins Chaos stürzte, werde es „unter keinen Umständen“ geben, beruhigte Wirtschaftsminister Guillermo Ortiz die ausländischen Gläubiger kurz nach Bekanntgabe des drastischen Sparprogramms. Gerade das aber fordern derzeit immer mehr empörte MexikanerInnen von ihrer Regierung: Bevor man das eigene Land „ausbluten“ lasse, so eine Versammlung von Jungunternehmern in Monterrey, solle man lieber die Zahlung des Schuldendienstes verweigern. Bis zum Ende des Jahres wird Mexiko bei ausländischen Geldgebern voraussichtlich mit 164 Milliarden Dollar in der Kreide stehen – fast 60 Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsprodukts von 1994.
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