: Solingen-Prozeß auf Messers Schneide
■ Der einzige geständige Angeklagte widerruft: Wer die Tat begangen hat, weiß ich nicht
Düsseldorf (taz) – „Das ist eine Bombe, die hier einschlägt.“ Mit diesen Worten reagierte gestern der Vorsitzende des 6. Strafsenats am Düsseldorfer Oberlandesgericht (OLG), Wolfgang Steffen, auf eine überraschende Kehrtwende des bisher einzig geständigen Angeklagten im Prozeß wegen des Brandanschlags auf das Haus der türkischen Familie Genc: „Ich habe gelogen. Mein Geständnis war falsch. Wer die Tat begangen hat, kann ich nicht sagen.“ Bei dem Anschlag starben fünf Frauen und Mädchen.
Mit diesem Widerruf des 25jährigen Markus Gartmann ist die Prozeßstrategie der Anklage erschüttert worden. Eine intensive Befragung von Gartmann soll nächste Woche im Beisein von mehreren psychiatrischen Gutachtern erfolgen. Gartmann, der schon einmal beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs widerrufen und dann erneut gestanden hatte, sagte gestern, er habe sich „alles nur ausgedacht“ und sich dann später „von dem Geständnis nicht mehr runtergetraut“.
In einem persönlichen Brief an die Familie Genc hatte Gartmann kurz vor Prozeßbeginn erklärt, er habe die Tat mit den anderen drei Angeklagten zusammen begangen. Den Hinterbliebenen versicherte er dabei: „Ich schäme mich unendlich.“ Alles nur grausames Theater auf Kosten der leidgeprüften Familie Genc? Ja, sagt Gartmann nun. Sein Wahlverteidiger Siegmund Benecken habe ihm damals Mut gemacht, er könne „vom ,lebenslänglich‘ runterkommen“, wenn er sich aktiv an der Aufklärung beteilige und Reue zeige. Über die Verteidigungsstrategie von Gartmann war es zwischen dessen Pflichtverteidiger Karlheinz Linke und Benecken während der bisherigen 80 Verhandlungstage wiederholt zu Auseinandersetzungen gekommen. Dabei hatte Gartmann sich immer auf die Seite von Benecken geschlagen. Während Benecken nach Dutzenden von Gesprächen mit Gartmann „felsenfest von der Schuld der vier Angeklagten überzeugt“ war, äußerte Linke wiederholt Zweifel am Geständnis seines Mandanten. Noch vor wenigen Monaten hatte Gartmann dazu erklärt: „Ich bin damit nicht einverstanden, daß mein Geständnis von einem meiner Verteidiger angezweifelt wird.“ Und zum Zustandekommen seines ersten Widerrufs beim Bundesgerichtshof: „Ich habe es einfach mal versucht, aus der Sache wieder rauszukommen.“ Benecken bat gestern um seine Entpflichtung, weil das Vertrauensverhältnis zerstört sei. Georg Greeven, Verteidiger des seit Beginn jegliche Tatbeteiligung bestreitenden Angeklagten Felix K., sagte, ihn „beruhige“ der Widerruf. Das Gericht habe nun „sehr viel größere Schwierigkeiten als vorher“. Das bisherige Geständnis von Gartmann habe ihm die „gleichen Schwierigkeiten bereitet wie der Widerruf nun dem Gericht“. Richter Steffen hielt Gartmann vor, an seinem Widerruf könne „man erhebliche Zweifel haben“. Für die Anwälte der Familie Genc, die im Prozeß als Nebenkläger auftreten, hat sich Gartmann mit dem Widerruf einen „Bärendienst“ erwiesen. Verteidiger Reinhard Schön sagte, Gartmann habe schon „viele Details“ geschildert, „die man nicht einfach erfinden kann“. Walter Jakobs
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