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Sie küßte, biß und schlachtete ihn

Deutschland, wundgeritten: Thomas Hettches Roman über die Nacht, in der die Mauer fiel: „Nox“  ■ Von Jörg Lau

Halten wir uns erst einmal an die schlichten Reizwerte. Das neue Buch von Thomas Hettche enthält: die rätselhafte, zunächst scheinbar motivlose Ermordung, nein: Schlachtung des Ich-Erzählers, eines Schriftstellers, durch eine junge Frau nebst vielen interessanten Details über die folgenden biochemischen Prozesse im Leichnam; sexuelle Begegnungen der zentralen Personen der Handlung in wechselnden Konstellationen; die Geschichte der Virchowschen Sammlung anatomischer Abnormitäten in der Berliner Charité; einen Plot, der die Figuren hin und wieder über die deutsche Grenze wechseln läßt; Momentaufnahmen des Geschehens in Berlin in der Nacht des 9. November 1989, die dem Roman den Titel gab – „Nox“.

Das sind mehr Attraktionen, als man von einem Roman hierzulande zu erwarten gewohnt ist. Wer Thomas Hettches Schaffen verfolgt hat, wird noch mehr Grund zum Staunen haben. Ausgerechnet Hettche, mit einem von der Kritik einhellig bejubelten morbiden Tagtraum („Ludwig muß sterben“, 1989) und einer fast ebenso einhellig verworfenen hermetischen Prosaübung („Inkubation“, 1992) hervorgetreten, hat einen Deutschland-Roman geschrieben? Thomas Hettche „erzählt die deutsche Nacht“ (Verlagswerbung)? Ist das wirklich jener Hettche, der in der Debatte um literarischen „Realismus“ vor zweieinhalb Jahren kluge Worte zur Verteidigung der Literatur gegen die Verpflichtung zur Authentizität fand, kluge Worte gegen jene Schimäre, die Matthias Altenburg, Initiator des Streits, im Spiegel in ödipalem Überschwang beschworen hatte als „jene dicke Mama, die wir uns angewöhnt haben, ,das Leben‘ zu nennen“? Jener Hettche, der schrieb, daß man „Autoren an ihrer Sprache [erkennt], denn sie sind nichts als der Mund ihrer Wörter“ (taz v. 22. 10. 1992), und sich über die Angeber-Anglizismen seines Antagonisten Altenburg mokierte – über die Forderung etwa, der Autor solle sich „an jene dirty places begeben“, an denen „Bisse und Küsse so schwer zu unterscheiden sind“?

Ja, er ist es. Man erkennt ihn an der Sprache. Beides ist da, die essayistische Präzision in den Reflexionen des toten Schriftstellers, der uns die Geschichte dieser Nacht erzählt, und leider auch der hysterische Schwulst, sobald Hettche die schlichteste Handlung seiner Protagonistin erzählt – wenn die Heldin in die Dämmerung hineinspaziert, heißt es, daß sie „den Meridian überquerte, an dem der Dämmer der Nacht wich“.

In sein Historienbild der „deutschen Nacht“ hat Hettche ein Selbstbildnis eingetragen: Am Abend des 9. November hat der Ich-Erzähler von „Nox“ eine Lesung in einem Haus an einem See gegeben. Einheimische werden das „Literarische Colloquium“ am Wannsee erkennen, und ein gewissenhafter Rezensent hat ermittelt, daß der wahre Hettche dort am angegebenen Datum wirklich gelesen hat. Nach der Lesung kommt es zu einer folgenreichen Begegnung mit einer Frau aus dem Publikum: „Ihre Hand zwischen meinen Beinen flüsterte sie, als fragte sie mich etwas oder spräche mit jemandem, der hinter mir stand. Ich verstand nicht. Ihre Haut zog sich zusammen an der kalten Luft, und ich saugte mich fest in ihrem Nacken. Beiß zu, zischte sie plötzlich, und rieb hart mit beiden Händen den Stoff meiner Hose.“ Man wird zögern, das LCB einen schmutzigen Ort zu nennen, aber hier sind offenbar Bisse und Küsse schwer zu unterscheiden.

Und so ist es auch in manch anderer Episode dieses Buchs, in dessen Sexpassagen das Personal sich ein ums andere Mal unter Lust und Schmerz vereinigt. Warum bloß läßt einen dieser Reigen so kalt? Vielleicht weil Hettche sich selber nicht für das interessiert, was seine Figuren treiben. Bei diesen deutsch-deutschen Kopulationen geht es stets um mehr, hier wird etwas bedeutet. Einmal tun es zwei auf dem Rücksitz eines Trabants: „Sie zog den Rock hoch und bestieg ihn. Schob den Slip beiseite und half ihm in sie einzudringen. [...] Als ihr Atem plötzlich stockte, öffnete er die Augen. Wie ein ängstliches Kind klammerte sie sich an ihn, und der Trabant passierte den Grenzübergang Prinzenstraße.“ Muß man noch sagen, daß sie Ostlerin, er Westler ist?

Weh dem, der Symbole sieht!, möchte man da mit Samuel Beckett warnen. Vergebens. Hettche läßt den Leser nicht so leicht entkommen. So etwa liest es sich, wenn eine gewisse blonde Heike, Ostberlinerin, im Trubel nach der Maueröffnung zufällig auf eine Schickeria-Party geraten, sich an einem Westberliner Politiker zu schaffen macht: „Nur sie sah, daß sie vor dem Senatsrat am Boden kniete, ihm an der Hose nestelte, sie öffnete und hineinfaßte mit einer Hand. Warf dann den Kopf hin und her, als bisse“ – Altenburg, aufgepaßt! – „sie ein Stück sehniges Fleisch ab. Und etwas, sah sie, zerbrach in seinem Gesicht, eine Verstrebung oder ein Fundament. Lachen brannte sich schmerzlich fest und blieb, starr, auch in seinem Gesicht, als es ihm kam. Verschwand nicht mehr.“

Die Sexstellen sind mit Abstand das Schlechteste an diesem Buch. Die Sprache selber scheint sich der Bedeutungshuberei zu sperren. Hettche, geschmeidig und präzise in manchem Detail, klingt mit unschöner Regelmäßigkeit steif und manieriert, wenn er seine Leute aufeinander losläßt. Wer die oben zitierte Passage übersteht, ohne daß in seinem Gesicht etwas zerbricht, ist schon wahrhaft hartgesotten. Aber „Nox“ hält noch härtere Prüfungen bereit. David zum Beispiel, einen Ostberliner Masochisten, dem die Mörderin auf ihrer Flucht begegnet. „Fick mich, David“, fordert sie freiheraus. Fast sieht es aus, als käme es auch so weit. David läßt die Hosen herunter. Doch da „erschrak sie. Sah, daß er verstümmelt war, und schloß entsetzt vor der rotgeränderten Narbe die Augen. [...] Es war, als ob der Schmerz ihren Körper ritzte. Sie sah, daß die Eichel seines Gliedes, mit einer Rasierklinge oder einem Skalpell, dachte sie, tief längs gespalten war über den Ausgang der Harnröhre hinweg.“ Längs gespalten. Mit einem Skalpell. (Wie Deutschland durch die Mauer?) Aber irgendwie kommen am Ende der Nummer doch beide Seiten auf ihre Kosten. „Als öffnete allein der Anblick die fremde Erinnerung, spürte sie noch einmal, wie die Klinge ihm in die Haut fuhr. Phantome der Wunde strichen über sie hin solange, bis der Schmerz schließlich die Grenze zwischen Kopf und Körper durchbrach und sie als Lust durchschoß. [...] Zitternd und in dünnen Stößen floß ihr das Sperma auf die Haut.“ Lachen brennt sich schmerzlich fest. Verschwindet nicht mehr.

Dann läßt es doch nach, wir nähern uns dem Höhepunkt der Nacht. Die Heldin nähert sich durch den Tiergarten der Mauer. Wer bislang noch zögerte, die Narben- und Schmerzmotive des Romans auf die Wiedervereinigung, auf den Komplex „Wunde Deutschland“ zu beziehen, dem wird nun unsanft Hilfestellung gegeben. „Staunend sah sie zu, wie entlang der Mauer die Narbe, die mitten durch die Stadt lief, aufbrach wie schlecht verheiltes Gewebe. Wie man gleißend die Stelle ausleuchtete und eilig Wundhaken hineintrieb. Blitzenden Stahl ins Fleisch, um das unter der Anspannung blutleere und weißglänzende Bindegewebe der Narbe, die seit Jahrzehnten verheilt schien, nun vollständig aufzureißen.“

Das ist deutlich genug. Aber Hettche traut seinem Publikum nicht viel zu. Er läßt die Sache mit der Narbe Deutschland lieber noch einmal repetieren: „Am lebendigen Leib, verstehen Sie? Sie reißen die Narbe auf, die so gut verheilt schien. In dieser Nacht, verstehen Sie? Man muß neu begrenzen, ins Wuchernde schneiden, tief ins Lebendige hinein.“

Am Ende dieser Nacht – die Hauptpersonen veranstalten ein Orgien- und Mysterientheater im Anatomiesaal der Charité – überlagern sich dann noch einmal der S/M- und der „Wunde Deutschland“-Komplex. Die Heldin wird kopfüber an Fesseln aufgehängt und mit einer Winde nach oben gezogen: „Der Schmerz war ein glänzendes, gläsernes Stückchen Zeit, das sich einbrannte und in ihr zu schwelen begann. Ein Augenblick, in den sie wie in glitzernde Scheiben stürzte, und die Wunde verlief durch sie hindurch, die aufgebrochene Wunde. Im Schoße der Jungfrau die geronnenen Gedanken Gottes, dachte sie.“

Amen. Es ist vollbracht. Deutschland ist wieder eins, wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt; warnend und mahnend ragt noch einmal Davids „zerschnittenes Geschlecht“ empor. Aber was soll's. Ende gut, alles gut. Das schönste aber: Thomas Hettche hat den nationalen Erweckungskitsch auf eine so schwindelnde Höhe geführt, daß mit einer Überbietung vorerst nicht zu rechnen ist.

Noch etwas abschließend zum Realismusstreit: Nichts gegen die Fiktion eines toten Erzählers. Da spielen wir ohne Murren mit. Aber fünfmal ist in „Nox“ die Rede von einem Lippenstift, mit dem Lara, eine Nebenfigur, herumspielt. Dreimal in kurzer Folge heißt es, es handele sich bei diesem Accessoire um einen Kubus: „Sie sah den goldenen Kubus des Lippenstiftes“, „nahm den goldenen Kubus ihres Lippenstiftes“, „zog den goldenenen Kubus des Lippenstiftes aus ihrem Jackett“. Ein zarte Aufforderung an Autor und Lektorat: bitte vor Neuauflage zu prüfen, ob wirklich ein Lippenstift in Würfelform gemeint war oder ob hier jemand schwach in Mathe war und auf den falschen geometrischen Terminus verfiel. Recherchen in namhaften Berliner Parfümerien führten ausnahmslos zu abschlägigen Bescheiden.

Thomas Hettche: „Nox“. Roman. Suhrkamp, 160 Seiten, geb., 32 DM

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