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■ beiseiteAuch „Take That“ hinterlassen Gräten

Tellerwäscher zu sein ist bekanntlich kein dankbarer Job. Auch der exklusive Ruf des Hilton-Hotels, wo ich allabendlich die Spülmaschine bediene, macht die Sache kaum besser. Am vergangenen Mittwoch wurde mir jedoch die ganze Schmach dieses Berufszweigs bewußt, als die Popgruppe „Take That“ bei uns gastierte. Ich war gerade erst der beklemmenden Enge des U-Bahn-Schachts entklommen, als bereits jenes unheilvolle Geräusch an meine Ohren drang: ein hohes Sausen, als fegte ein Schwarm mächtiger Zugvögel dicht über meinem Kopf hinweg, ein Pfeifen, als würde schwarzer Granit gesägt. Mit ungutem Gefühl schritt ich hinüber zum Hotel, wo eine riesige Traube von Schülerinnen amöbenartig hin und her wogte und diesen Schrei ausstieß, den man bei einem Einzeller allerdings nicht erwartet hätte: „Wir wollen Take That!“

Im Nu war ich erfaßt von der gallertartigen Masse, um mich herum nichts als liebreizende Mädchen, sämtlich herausgeputzt, als rechneten sie allen Ernstes damit, Robbie, Mark oder Jason könnte auf die Straße treten und sie alle zusammen zu einem Date mit auf ihr Zimmer nehmen. Die meisten waren unter 16, bis auf einige wenige, die aber auch sorgenvolle Mütter von noch Jüngeren gewesen sein könnten. Keines der Mädchen würdigte mich auch nur eines Blickes. Ich mußte unweigerlich an Fellinis „Stadt der Frauen“ denken. Was hätte Mastroianni jetzt an meiner Stelle getan?

Die Mädchen starrten unbeirrt auf ein Fenster im 3. Stock des Hotels, ich starrte mit. Ein plötzlicher Neid auf die fünf Auserwählten dort oben überfiel mich. Während es in meiner Familie nur so von Kinderstars wimmelt, hatte ich nie das Zeug dazu. Mir fehlte es an der Raffinesse meines Cousins, der 1984 den „Jugend forscht“-Preis mit der Erfindung der Tomatoffel (ein Gewächs, das an der Staude Tomaten und an der Wurzel Kartoffeln trägt) einheimste. Daß es wohl auch zum Teenie-Popstar nicht reichen würde, überzeugte mich meine ältere Schwester, die seit frühester Kindheit in NDR- Produktionen unbezähmbare Gören mimt: Ich besäße nicht einmal genug Sex-Appeal, um die älteren Damen in der Jury des Gelsenkirchener Schlagerwettbewerbs auf meine Seite zu bringen.

Plötzlich öffnete sich das Fenster im dritten Stock. Wir alle hielten den Atem an. Dann erhob sich ein Wutgeschnaub aus hundert betrogenen Nasen: anstatt der angebeteten Jünglinge waren drei Mädchen am Fenster erschienen, offensichtlich ihre Freundinnen. „Ihr wollt sie ja bloß ins Bett schleppen!“ mutmaßte man unten auf der Straße, und: „Jason ist viel zu gut für dich, du Hure!“ Schließlich fällte man gemeinsam das harte Urteil: „Schlampen, Schlampen!“ Bevor die aufgeheizte Stimmung ihren Siedepunkt erreichen würde, die wütende Menge zu Pflastersteinen griff und ich Opfer von Ersatzhandlungen werden konnte, verdrückte ich mich Richtung Personaleingang. Denn ich hatte ja noch einen Auftrag zu erledigen heute Abend: Zweieinhalb Tonnen Geschirr warteten unten in den Gewölben des Hotels auf mich, um gespült zu werden, verbrannte Töpfe wollten gescheuert, Meere von Besteck poliert werden. Einziger Trost: Heute Nacht würden mir auch die verschmähten Fischgräten, Fettaugen und Kakaohäute von Jason, Mark, Robbie, Gary und Howard zwischen die Finger geraten.Noel Rademacher

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