: Auf den Spuren des Waldschrats
Vier Tage durch den saarländischen Hochwald – Eine Wanderung durch die Waldgeschichte ■ Von Robert Zimmer
Ingeborg steigt für heute aus. Die Blasen sind aufgeplatzt. Jeder Schritt wird zur Tortur, und wir haben noch 15 Kilometer vor uns. Wir organisieren per Anhalter einen Wagen, der sie zur Unterkunft an unserem heutigen Etappenziel bringt. Auch ich habe nach den 30 Kilometern des ersten Tages völlig lädierte, geschwollene Füße. Es reicht.
Dies ist sicher keine Wanderung für blutige Wanderanfänger. Wer die vier Tagesetappen à 25 bis 30 Kilometer stockauf, stockab über die bewaldeten Hügel des nördlichen Saarlandes bewältigen will, sollte ein Minimum an Fitneß mitbringen. Gutes Schuhwerk ohnehin. Die gute Laune kommt von selbst.
Der viertägigen geführten Tour in der Grenzregion zwischen dem Saarland und Rheinland-Pfalz unter dem Titel „Wandern im Hochwald – Grüne Seele der Region“ liegt das Konzept einer Wanderung als regionalgeschichtlicher Lehrpfad zugrunde. Die TeilnehmerInnen sollen den Wald als gewachsene Kulturlandschaft erleben. Zur Wanderung gehören immer wieder Begegnungen mit MitarbeiterInnen von Forst- und Gemeindeverwaltungen, die über Waldgeschichte, Waldbewirtschaftung und touristische Erschließung des Waldes informieren. Lothar Wilhelm, Mitglied der Saarländischen Naturfreunde und Regionalbeauftragter des Projekts „Sanfter Tourismus Saar“, hat diese Wanderung konzipiert, die Kontakte zu den ReferentInnen geknüpft und Informationsmaterial zusammengestellt. Lothar ist der Leiter und Allround-Ansprechpartner der Gruppe. Auf der Strecke kennt er jeden Baum persönlich.
„Wandern im Hochwald“ ist Teil eines inzwischen umfangreichen Angebots von Rad- und Fußwanderungen, die innerhalb des Projekts „Sanfter Tourismus“ von den saarländischen Naturfreunden entworfen und von der Saar-Pfalz- Touristik in Homburg/Saar organisatorisch betreut und vermarktet werden. Hier wird, wie Stefan Thomas, der für Marketing zuständige Mitarbeiter der Saar-Pfalz-Touristik, erklärt, ein Spagat zwischen Ökonomie und Ökologie versucht: Wieviel ist ein am ökologischen Wandern interessierter Teilnehmer bereit zu zahlen? Wie viele Serviceleistungen fordert er? Wo sind die Grenzen der Rentabilität erreicht?
Unsere Wandertour im Hochwald ist erst seit 1994 im Programm und findet zweimal im Jahr, Anfang Juni und Anfang Oktober, statt. Sie kostet (auf fünf Tage erweitert) für das Jahr 1995 498 Mark für TeilnehmerInnen, die sich ein Doppelzimmer teilen, und 558 Mark für TeilnehmerInnen mit Einzelzimmer.
Die meisten der TeilnehmerInnen sind bereits am Vorabend des ersten Wandertags angereist und haben sich schon miteinander bekannt gemacht. Ingeborg, Jutta und Manfred kommen aus der Kölner Gegend. Alle anderen sind Saarländer. Das Durchschnittsalter in der Gruppe liegt zwischen 40 und 50, darunter auch einige ausgesprochene Wanderprofis.
Der erste Tag beginnt in Nohfelden im nordwestlichen Saarland, und zwar gleich mit einer Schulstunde: der Wald als Energiereservoir und Wirtschaftsraum. Werner Feldkamp, der stellvertretende Leiter des Forstamts St. Wendel und Kreisnaturschutzbeauftragter, referiert über Köhlerei, Lohheckenbewirtschaftung und über Landschaft als organische Zellstruktur. Jeder erhält einen grünen Pappordner, genannt „Grünes Buch der Waldgeschichte“, mit den ersten Informationsblättern, und dann stapfen wir los. Nach ein paar hundert Metern führt uns Werner Feldkamp zu dem ersten Naturdenkmal: der dicksten Lärche links des Rheins, gepflanzt vor etwa 250 Jahren.
Der Weg zu unserem heutigen Etappenziel in Nonnweiler führt uns zunächst zum Bostalsee, einem künstlich angelegten Stausee, der sich zu einem Zentrum des saarländischen Nahverkehrstourismus entwickelt hat. Hier treffen wir auch auf die sogenannte saarländische Skulpturenstraße, eine nördlich von St. Wendel beginnende in die Natur integrierte Reihe von Skulpturen verschiedener Bildhauer.
Der Nachmittag gehört der Geschichte der Kelten, die sich hier, wie im angrenzenden Frankreich, gegen das Eindringen der Römer zur Wehr setzten (Asterix läßt grüßen!). Auch hier hat sich Lothar gründlich vorbereitet. Wir lernen etwas über das Baumalphabet der Kelten und werden zum Hunnenring, nahe dem saarländischen Otzenhausen, geführt, einer im 1. Jahrhundert v. Chr. entstandenen keltischen Fliehburg, der größten, die in Südwestdeutschland erhalten ist. Als wir den meterhoch aus Steinen geschichteten Festungsring wieder hinunterklettern, spüren wir bereits jedes kleine Steinchen an den Fußsohlen. Aber wir sind schon nahe dem heutigen Etappenziel: der „Parkschenke“ Nonnweiler.
Der zweite Tag steht ganz im Zeichen der Eisenindustrie, die hier im Hochwald ihren Anfang nahm und dort auch zahlreiche Spuren hinterlassen hat. Mit Thomas Finkler, dem für Tourismus zuständigen Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung Nonnweiler, besichtigen wir eine alte, jedoch schon sehr verfallene Nagelschmiede, die inzwischen im Besitz einer benachbarten Wirtsfamilie ist. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde hier noch gearbeitet. Die Nagelschmiede war das letzte Glied in der Kette der Eisengewinnung und -verarbeitung. Gefunden und geschmolzen wurde das Eisen ein paar Kilometer weiter in der Hubertushütte, einem umfangreichen Komplex von Schmelze, Hammer, Sägemühle und Siedlungshäusern. Die Reste der im 18. Jahrhundert entstandenen Anlage sind allerdings nur für ein geübtes Auge noch als solche sichtbar, denn nichts als einzelne Mauerreste und überwucherte Gräben sind übriggeblieben.
Als wir am Nachmittag nach einem kilometerlangen Anstieg auf einem asphaltierten Weg die Burgruine Grimburg auf der rheinland- pfälzischen Seite erreichen, sind wir schon nicht mehr konzentriert genug, um Lothars Erläuterungen der Hexenverfolgungen und des Zusammenhangs zwischen Herrschaft und Strafe bei Foucault zu folgen. Unser Sinn steht nach einer Erfrischung und vor allem nach den „Gefillden“, den deftigen gefüllten Kartoffelklößen, einem saarländischen Nationalgericht, das uns am Abend im „Reidelbacher Hof“ nahe Wadern erwartet.
Der dritte Tag, so sagen die erfahrenen Wanderhasen, ist der kritische und oft mit einem konditionellen Einbruch verbunden. Doch heute ist alles anders. Die Kondition hat sich stabilisiert, der Tag ist sonnig, und die Strecke führt über abgelegene verwunschene Fußpfade mitten durch den Wald.
Am Ende der Wanderung ist mein „Grünes Buch der Waldgeschichte“ prall gefüllt. Wir sind den verborgenen Spuren des Waldschrats gefolgt und haben den Wald als Wirtschaftsraum mt eigener Industrie- und siedlungsgeschichte entdeckt.
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