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■ StandbildFriedhofsroutine

West 3, Dienstag, 21.15 Uhr

In der Boulevardmagazinwelt der Privaten war es nur ein skurriles Bilder-Happening: der aidskranke Berliner Autor Napoleon Seyfarth läßt sich seinen himmelblauen Sarg noch zu Lebzeiten in die Wohnung tragen.

Nun hat auch die WDR-Reporterin Ilona Rothin ihn und seine Bestatterin Claudia Marschner besucht. Der Sarg war diesmal nicht zu sehen – dafür gab es ein nachdenkliches Friedhofsfeature über „die Suche nach Ritualen, die mehr Kraft für einen Neuanfang geben“. Nicht das Exotische war der Angelpunkt, sondern die Individualität; das emotionale „Erbe“ von Verstorbenen.

Es braucht gar keine Plastikherzen oder Konfetti – ein verlesenes Gedicht genügt. Oder die Söhne, die ihren toten Vater waschen, einkleiden und beim Begräbnis nochmal Kölsche Schlager spielen. Oder die Seebestattung: statt beklemmender Grabsteine nur die unendliche Weite der Ostsee. Doch es ging nicht nur um das schönere Sterben. Ein katholischer Pfarrer sah die kahle Friedhofskapelle als „Raum zum Nachdenken und nicht zum Schauen“.

Bei aller Hingabe vieler Hinterbliebener kam indes der traurige Alltag etwas zu kurz. Immer mehr Menschen werden ohne jede Wahl beerdigt: im 08/15-Sozialhilfesarg – und nur ihr Nachlaßverwalter nimmt Abschied. Parallel dazu bildet sich auch auf den Gottesäckern eine Zweiklassen-Gesellschaft: Luxusgrüfte mit Marmor und mehreren Etagen und nebenan Billigbeete von Efeu umrankt – 1 x 1,20 Meter. Auch da sind die Motive nicht nur edel: der Preis, aber auch die Unlust, sich um die Grabpflege zu kümmern. Aus den Augen, aus dem Sinn. Diese vielschichtigen Empfindungen im Zusammenhang mit dem definitiv letzten Tabuthema ließ die Autorin nur in Randbemerkungen anklingen.

Schade, man hätte daraus einen intensiven Kulturreport machen können und nicht „nur“ einen aufmerksamen Ortstermin. Daß die Friedhöfe mitsamt ihrer Vorschriften „Spiegelbild unserer Gesellschaft“ sind, das wußte auch einer der interviewten Friedhofsleiter.

Warum ließ Rothin ihm nicht Näheres erzählen? Ihr Bericht war interessant, routiniert, ohne oberflächliche Redseligkeit und Pathos. Dennoch blieb es bei einer ersten Annäherung an das gern Verdrängte. Trauerarbeit in der Single-Society – (k)ein Thema mit Zukunft? Dieter Deul

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