Zwischen den Rillen: Großartigste Grundfragen
■ Peinlichkeit, wo ist dein Stachel? „Made in England“, die Neue von Elton John
Völkerpsychologisch gesehen muß Elton John in England etwas ähnliches verkörpern wie Harald Juhnke hier: den Mann von Charakter und Herzensbildung, an dessen Leben sorgend Anteil zu nehmen Bürgerpflicht ist. Wenn Elton sich für 15.000 Pfund ein beatlemäßiges Kunsthaarteil anfertigen läßt, ist das monatelang Stoff für Schlagzeilen, wenn er seine Gewichtsprobleme mit Injektionen aus Schafsurin bekämpft, nicht minder – und das klassen- wie gruppenübergreifend!
Elton kann mit Sting und Phil Collins, mit Lady Di und all diesen Typen aus der königlichen Familie rumhängen und kriegt immer noch Respekt in der Subkultur, wie umgekehrt die schlimmsten Sex- und Saufexzesse seiner Popularität als „Queen Mum of Pop“ keinen Abbruch getan haben.
Wenn so jemand mit bald fünfzig Bilanz zieht, ist das naturgemäß eine öffentliche Beichte. In einem seiner seltenen Interviews hat Elton John dem New Musical Express offenbart, in welchem Ausmaß er, der als Junge zu schüchtern war, um sich an irgend etwas anderem zu berauschen als an seiner Plattensammlung, in späteren Jahren der schlimmste Rock'n'Roll-Leben-Leber von allen war; daß acht Gramm Kokain und eine Flasche Whiskey pro Nacht ein Klacks für ihn waren; daß es ihm am Ende auch nichts mehr ausmachte, mit kleinen Kotzflecken auf dem Revers durch die Gegend zu laufen – so fertig mit allem sei er gewesen. Bis er dann diesem an Aids sterbenden Jungen begegnete und – my private Philadelphia – wie durch ein Wunder ein cleanes Leben begann.
Zeugnis der Wandlung ist „Made In England“, Johns jüngste CD und „die beste, die ich je gemacht habe“ – was reichlich übertrieben ist und ohne Frage dem Überschwang der Nüchternheit geschuldet. Wahr bleibt, daß das Werk wieder sehr viel sorgfältiger gemacht ist als die unzähligen mittelprächtigen One-Hit- LPs ab etwa „Blue Moves“ (1976), die John zunehmend wie im Koma produziert haben muß (ich sage nur: „Too Low For Zero“). Es gibt ein bis zwei Riffrocker, ein bißchen Uptempo, ansonsten dominiert, was Elton John am besten beherrscht: die stark gezuckerte, etwas tortige Prachtballade, hier vom großen Paul Buckmaster in Streicherarrangements gebettet, die irgendwie den Anschluß ans hochpathetische Frühwerk suchen.
Bestimmendes Thema sind die zwischenmenschlichen Verwerfungen, die Frage, warum wir's uns alle immer so schwermachen, weshalb da so wenige Lichtlein brennen am Ende der Straße, warum Jugend Alter nicht ehrt, in Belfast immer noch gekämpft wird, Zwietracht, Haß und Mißgunst herrschen unter den Menschen, auch Lüge: „And we lie, lie, lie / In a streetcar named desire“. Großartigste Grundfragen also, die tief ins Ontologische hinabreichen und jeden Geringeren als Elton John hätten straucheln lassen. Er aber, der Captain Fantastic, Schöpfer von „Rocket Man“, „Daniel“ und „Bennie and The Jets“, faßt sie mit sicherer Hand in fast schon lapidar zu nennende Songs: „Please“, „Man“, „Lies“, „House“, „Blessed“, „Believe“. Titel wie Kerzen im Wind – aber sie brennen!
„Made in England“ ist öffentliches Altersgrübeln, das – Peinlichkeit, wo ist dein Stachel? – auf höchst souveräne Weise an die bizarr umgeleitete Libido der frühen Jahre anknüpft: „I had a quit-me father / I had a love-me mother / I had little Richard / And that black piano“.
Wer in einem Ort namens Pinner in einer Landschaft namens Middlesex unter solchen Bedingungen aufwächst, hat ja von vornherein nicht die besten Karten; wer dann aber noch dick, schwul und unsportlich ist, dem gnade Gott: Was bleibt ihm übrig, als das Klavier zu behämmern, Marilyn Monroe zu verehren und auf schnellstem Wege berühmt zu werden?
„I Guess That's Why They Call it The Blues“: Alle lieben Elton, weil in keinem zweiten Crooner dieses Sonnensystems das Drama des sehnsüchtigen Teenagers so ungebrochen, so restlos Performance und Melodram geworden ist – biographisch im übrigen schon abzulesen an den zwei verbürgten Selbstmordversuchen: Das eine Mal soll sein Songwritingpartner Bernie Taupin ihn mit dem Kopf im Gasofen gefunden haben, jedoch bei offenem Fenster und auf ein Kissen gebettet; das andere Mal sprang Elton unter Valium und mit dem Ausruf: „Ich will sterben“ in den hauseigenen Swimmingpool.
Darin badeten gerade seine Mutter und seine Großmutter. Sagt das nicht alles? Thomas Groß
Elton John: „Made in England“ (Rocket/Mercury)
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