: Wenn der Postmann gar nicht klingelt Von Ralf Sotscheck
Der Briefträger wog sich schon in Sicherheit, nachdem er an unserem Haus vorbeigelaufen war und beim Nachbarn in die Auffahrt einbog. Ich hatte ihn jedoch aus dem Fenster beobachtet und rannte durch die Hintertür zum Nebenhaus. Dem Briefträger klappte vor Schreck die Kinnlade herunter, als ich ihm die Haustür öffnete. Er starrte erst die Hausnummer und dann mich entgeistert an. Nach einer Weile stellte er völlig korrekt fest: „Du wohnst hier nicht.“
Ich will meine Post, verlangte ich, vor allem die deutschen Zeitungen. Die letzte Zeitung, die er gebracht hatte, war auf den Tag genau einen Monat alt. „Ich habe mich auch schon gewundert“, stammelte er, „ich dachte, du hättest sie abbestellt.“ Hatte ich nicht. „Wenn keine Zeitung in meinem Fach liegt, kann ich auch keine zustellen“, entgegnete er überzeugend. Da müsse ich mich schon ans Hauptpostamt wenden.
Gesagt, getan. Am nächsten Tag lag der Beschwerdebrief mit 80prozentiger Wahrscheinlichkeit – vier Fünftel aller Briefe innerhalb Dublins werden am nächsten Tag zugestellt, behauptet die Post – auf dem Schreibtisch des Hauptpostamtsvorstehers. Daraufhin ließ sich drei Tage lang überhaupt kein Briefträger im Viertel blicken. Am vierten Tag rief ich die Kundenbetreuung der Post an — niemand hob ab. Einen Tag später hatte ich mehr Glück, wenn man in diesem Fall von Glück sprechen kann.
Die Kundenbetreuerin hörte sich meinen Fall an und versprach, etwas zu unternehmen. Am nächsten Morgen sah ich schon von weitem die Schlagzeilen am Zeitungskiosk: „Postdirektor soll abtreten!“ Und in der Unterzeile: „Unzufriedenheit über maroden Zustelldienst!“ Das hatte ich nicht gewollt. Beim genaueren Hinsehen stellte sich jedoch heraus, daß ich nicht der einzige unzufriedene Kunde war. Manche Leute in einem Süddubliner Bezirk bekommen schon seit einem Jahr nur sporadisch Post. Die Schriftstellerin Nell McCafferty, die ausgerechnet in diesem Bezirk wohnt, hat jetzt ein Honorar von tausend Pfund ausgeschlagen. Sie sollte bei einem Wettbewerb der Post, bei dem es um den bestgeschriebenen Brief ging, die SiegerInnen auswählen. Das wäre heuchlerisch, sagte McCafferty, sie könne nicht junge Menschen zum Briefschreiben animieren, wenn die Briefe ohnehin niemals ankämen.
Die Post führt die Probleme auf die vor einem Jahr in Betrieb genommene computergesteuerte Sortieranlage vor den Toren Dublins zurück. In der Vorfreude über das Leistungsvermögen des Ungetüms hatte man 180 Leute entlassen und den anderen eine Stunde mehr Schlaf gewährt: Statt um sechs müssen sie seitdem erst um sieben anfangen. Doch der Computer ist ein Versager, er schickt die Post kreuz und quer im Land umher. Die Post hat den Sortierern nun tausend Pfund pro Kopf geboten, wenn sie wieder früher anfangen – die Beamten reagierten darauf mit gestrecktem Mittelfinger.
Irgend etwas muß seitdem aber passiert sein: Seit einer Woche steht mein Briefträger jeden Tag mit einem Berg Post vor der Tür – allerdings nach wie vor ohne deutsche Zeitungen. Auf meinen vorwurfsvollen Blick entgegnete er: „Wenn du jemals wegziehst, sorg dafür, daß hier ein Analphabet einzieht. Und lad mich zu deinem Abschiedsfest ein.“
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