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Verstöße gegen das Reinheitsgebot

Braut sich da etwa eine Türkisierung der deutschen Kultur zusammen? Welche Eingrenzungen und Hierarchien liegen unserem Kulturbegriff zugrunde?  ■ Von Deniz Göktürk

„The Pure Products Go Crazy“ („Die reinen Dinge werden verrückt“) – so überschrieb der amerikanische Anthropologe James Clifford die Einleitung zu seinem Buch „The Predicament of Culture“ („Das Dilemma der Kultur“). Damit zitierte er ein Gedicht von William Carlos Williams, in dem der Arzt und Dichter in Betrachtungen über den desolaten Zustand der Kultur verfiel angesichts von Elsie, einem Mädchen mit unansehnlichen Hüften, schlaffen Brüsten und einer Spur indianischen Blutes, gestrandet als Dienstmädchen in einem Vororthaushalt. Ausgehend von Williams' Unbehagen über verlorene Reinheit und Authentizität entfaltet Clifford seine Analyse von Wurzellosigkeit, Mobilität und Hybridisierung als Grunderfahrungen der Moderne.

Für Schreibende in unserem Jahrhundert mündet diese Erfahrung – so Clifford – in einen „Zustand der Ungewißheit“, der darin gründet, daß „das Privileg, welches die sogenannten natürlichen Sprachen und Kulturen genossen, sich in Auflösung befindet. [...] In einer Welt zu vieler gleichzeitig durcheinander tönender Stimmen, in der Synkretismus und Parodie die Regel sind und nicht die Ausnahme, in einer großstädtischen, multinationalen Welt institutioneller Vergänglichkeit [...] wird es zunehmend schwierig, menschliche Identität und Bedeutung einer kohärenten ,Kultur‘ oder ,Sprache‘ zuzuordnen.“ Clifford veranschaulicht seine Kritik kultureller Repräsentation an den Werken Joseph Conrads und Bronislaw Malinowskis, die beide polnischer Herkunft waren und als Schriftsteller in England Karriere machten – in einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache war. Für Conrad war Englisch die dritte Sprache, die er erst im Alter von zwanzig Jahren lernte und in der er es zu literarischem Weltruhm brachte.

Das „Displacement“, die Exilsituation, war prägend für Conrads und Malinowskis Schreiben und für ihre subjektive Relativierung von sprachlichen und kulturellen Konventionen. In seiner Erzählung „Heart of Darkness („Herz der Finsternis“) trieb Conrad die Auflösung von linearen Modellen der Repräsentation von Wirklichkeit und der objektiven Wahrheitsfindung auf die Spitze, indem er den Major Kurtz an der Fremdheit des Kongo scheitern ließ. Der Zusammenstoß der Kulturen im Exil des Schreibenden führt zur Auflösung des Konzepts einer homogenen, in sich abgeschlossenen kulturellen Identität – durchaus kein neues Phänomen unserer Gegenwart. In den Reflexionen der Kulturanthropologie über die Position des Schreibenden verschwimmen die Gegensätze zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen den Modernen und den Primitiven. Die Rede von der einen Kultur wurde in diesem Prozeß abgelöst durch die Rede von den Kulturen. Die Beschäftigung mit kulturellen Produkten muß heute den Bedingungen von globaler Zirkulation und Vernetzung Rechnung tragen. Die in sich abgeschlossene Betrachtung von Kulturen, wie sie etwa die nationalen Philologien seit dem neunzehnten Jahrhundert praktizierten, erscheint daher unzureichend. Das Interesse richtet sich zunehmend auf Spannungen zwischen globalen und regionalen Diskursen sowie auf Formen der Einbindung international zirkulierender Produkte und Symbole in lokale Praktiken.

Die Fixierung und Einengung der anderen, „primitiven“ Kulturen durch den ethnologischen Blick wurde aus verschiedenen Ecken heftig angegriffen. Eine brisante Kritik am Eurozentrismus entwickelte der in New York lehrende palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said in seinem Buch „Orientalismus“. Anhand einer Reihe von literarischen, journalistischen und wissenschaftlichen Texten des neunzehnten Jahrhunderts zeigte er, wie der Orient in der Imagination des Abendlandes – und damit der ganzen Welt – als exotisch-entrückte Domäne festgeschrieben wurde. In seinem neuen Buch „Kultur und Imperialismus“ erweitert Said sein Untersuchungsfeld und analysiert die kolonialistisch-imperiale Wahrnehmung, wie sie sich angefangen von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ bis heute in vielen europäischen und amerikanischen Romanen manifestierte, nicht zuletzt in den Erzählungen von Joseph Conrad. Indem er die hybriden Konstrukte von kultureller Identität politisch ortet und die ihnen zugrundeliegenden Machtstrukturen herausarbeitet, geht Said weiter als Clifford.

Neue Forderungen für die Kulturkritik ergeben sich auch in Anlehnung an die Diskursanalysen Michel Foucaults oder an die Soziologie der Institutionen, wie sie Pierre Bourdieu betreibt. Die Frage, welche Eingrenzungen und Hierarchien unserem Kulturbegriff zugrunde liegen, rückt ins Zentrum der Kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Die Forderung nach kultureller Repräsentation von Minderheiten, aber auch von Frauen, entwickelt sich zur Herausforderung für den Kanon, der im Curriculum amerikanischer Universitäten streng festgelegt ist, so daß für seine Erweiterung heftige „canon wars“ ausgefochten wurden. Der in der amerikanischen Diskussion erweiterte Kulturbegriff beinhaltet entscheidende Impulse für den Umgang mit der Kultur von „Minderheiten“ in Deutschland und öffnet neue Horizonte für die Germanistik und andere kulturwissenschaftliche Disziplinen. Zur Überwindung der hier vorherrschenden Provinzialität in der Wahrnehmung von „Ausländerkultur“ scheint es geboten, globale Kontexte und Vergleiche heranzuziehen und die Schubladen zu überdenken, in die wir kulturelle Praktiken und Produkte einordnen.

Über dreißig Jahre sind vergangen seit Ankunft der ersten „Gastarbeiter“ aus der Türkei, dem Herkunftsland der größten in Deutschland lebenden Minderheit. Die Migranten sind seßhaft geworden. Aus dem Alltag deutscher Städte sind türkische Gemüseläden und Döner-Kebap-Buden mittlerweile nicht mehr wegzudenken. Aber hat sich über das kulinarische hinaus ein weitergehendes kulturelles Interesse entwickelt? Haben die Migranten literarische Spuren hinterlassen? Oder wie Fritz Raddatz in der Zeit fragte: „Gibt es einen deutschen Rushdie?“ – Türkische Literatur, auch die zeitgenössische Literatur aus der Türkei, konkurrierte zunächst in Dritte-Welt-Läden mit Nicaragua-Kaffee. Der sogenannten „Gastarbeiterliteratur“ fiel es schwer, Anschluß an das literarische Leben in Deutschland zu finden. Sie blühte in der Nische der Ausländerfürsorge, wurde jedoch kaum ernsthaft als Literatur anerkannt. Die Autoren und Autorinnen verwechselten häufig „multikulturell“ mit „muttikulturell“ und richteten sich ihrerseits in der Nische ein. Dennoch scheint sich ein Umschwung abzuzeichnen.

Die Konjunktur der Reportagen aus der Arbeitswelt, der Authentizitäts- und Betroffenheitsrhetorik, der Klagelieder über den Leidensweg der Migranten und deren Gespaltenheit zwischen den Welten flaut langsam ab. Die Opferrolle, die den Einwanderern lange Zeit gerade auch durch ein sozial engagiertes Publikum im Rahmen gut gemeinter Ausländerarbeit nahegelegt wurde, weicht nach und nach anderen kulturellen Ausdrucksformen. Von einseitig ausgerichteten Integrationsbestrebungen ist zumindest tendenziell eine Verschiebung zum Ideal des Stimmenpluralismus in der „multikulturellen Gesellschaft“ zu beobachten. Die „Ausländer“, die lange Zeit nur als Objekt der Diskussion in Erscheinung traten, melden sich nun vermehrt selbst zu Wort.

Während die frühen Texte der Migrantenliteratur thematisch der Gastarbeiterproblematik verhaftet blieben und die Opferrolle der Einwanderer festschrieben, begannen ab Mitte der achtziger Jahre die Autoren, ebenso wie die bildenden Künstler und Musiker, sich zunehmend gegen diese Festlegung zu sträuben und sich an anderen Themen und Genres zuzuwenden. Die wohlwollende Rezeption unter dem Vorzeichen eines „Türkenbonus“ ist nicht mehr gefragt; man will nicht in der Kategorie „Migrantenkünstler“ anerkannt werden, sondern als Künstler oder Schriftsteller überhaupt.

Ein neues Selbstbewußtsein ist entstanden, das sich gegen Provinzialismus jeder Art richtete und endgültig mit der Opferrolle bricht, ja die Rolle des Grenzgängers zwischen den Kulturen als kreatives Potential entdeckt. In welchem Maße der neue Horizont noch die Herkunftskultur umfaßt, muß jeweils individuell anhand der Werke erschlossen werden.

Die Grenzgänger vermehren sich, die Grenzen werden porös; dennoch ist das Ungleichgewicht im interkulturellen Dialog noch lange nicht überwunden. Die Literatur „ausländischer“ Autoren wird in der deutschen Diskussion reduziert auf die Spiegelung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Die imaginativ-kombinatorischen, spielerischen Potentiale von Literatur kommen dabei zu kurz. Die Erwartungen völliger Fremdheit und Exotik, die an die „Ausländerliteratur“ herangetragen werden, erfüllt diese kaum. Zeichnet sich da, wie manche befürchten, eine „Kreolisierung“ beziehungsweise „Türkisierung“ der deutschen Literatur oder gar eine Qualitätsverwässerung ab?

Die Kunst, Cocktails zu mixen und zu goutieren will eben gelernt sein. Möglicherweise sind es ja nur noch die Kulturfunktionäre in der bundesdeutschen Förderlandschaft, die Wert auf die Beibehaltung der Schubladen und auf die Einhaltung des Reinheitsgebots legen. Die Neueinrichtung der Schublade „Multikulti“ ist keineswegs als Widerlegung, sondern als Bestätigung dieser Vermutung aufzufassen. Der bloße Verstoß gegen das Reinheitsgebot ist eben noch keine Garantie für Qualität.

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