■ Frankreich, das Land der Umfragen: Bitte ankreuzen!
Paris (taz) – Sind sie zufrieden mit Ihrem Premierminister? Wie oft haben sie außerehelichen Sex? Finden Sie sich ein bißchen, sehr oder gar nicht (bitte ankreuzen!) rassistisch? – In keinem anderen Land werden die Bewohner so häufig befragt, wie in Frankreich. Mehrere zehntausend Umfragen im Jahr legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Über 200 Institute leben von der Fragerei – ihre Auftraggeber sind vor allem Parteien, Medien und der Staat selbst.
So stellten die Franzosen vor wenigen Wochen erstaunt fest, daß ihre eingewanderten Nachbarn gar nicht so fremd sind, wie sie immer dachten. In zweijährigen Befragungen hatte das staatliche Ined- Institut herausgefunden, daß ein großer Teil der jungen Männer mit nordafrikanischen Eltern mit eingeborenen Französinnen liiert ist, daß die jungen Leute ihre zarten Bande zu 97 Prozent außerhalb der Familie knüpfen und daß sie überwiegend französisch speisen. Und selbst die Polygamie in Frankreich – ein Phänomen, über das Feministinnen und Soziologen besorgte Leitartikel geschrieben hatten – entpuppte sich plötzlich als beinahe ausgestorben. Die Ergebnisse machten landesweit Schlagzeilen. Die meisten Politiker atmeten erleichtert auf, als sie die vielbeschworene Toleranz ihrer Landsleute bestätigt fanden. Nur einer, der Rechtsextremist und Präsidentschaftskandidat der „Front National“, Jean-Marie Le Pen, schimpfte lauthals über die „Manipulation“, die mit der Veröffentlichung dieser Umfrage mitten im Wahlkampf verbunden sei.
Apropos Wahlkampf: Dreimal schon ermittelten die Demoskopen „unbestrittene Spitzenkandidaten“ für das Präsidentenamt. Im November war es der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, der kurz darauf entschied, daß er überhaupt nicht kandidieren werde. Im Januar war es der Premierminister Balladur, der seine Kandidatur zu dem Zeitpunkt noch gar nicht angemeldet hatte. Und seit März sehen die Franzosen in dem Pariser Bürgermeister Chirac den besten Präsidenten, obgleich sie Balladur – dicht gefolgt von dem Sozialisten Lionel Jospin – für entschieden vertrauenswürdiger halten.
Die Demoskopen sind vor allem uneinig, ob Balladur oder Jospin den zweiten Platz im ersten Wahlgang macht und wer von ihnen damit in die Stichwahl kommt. Das Wahlergebnis vom 7. Mai hingegen prognostizieren alle Institute gleich: Der künftige Präsident heißt Chirac.
Die Frage, ob die Umfragen Manipulationen oder Thermometer der Demokratie sind, beschäftigt die Experten so lange, wie es die Demoskopie gibt, die in Frankreich 1938 eingeführt wurde. Während die einen behaupten, daß die Befragten ihre Antworten – und ihre Wahlentscheidung – nach den zuvor veröffentlichten Umfragen richten, loben die anderen die Demoskopie als demokratische „Gegenmacht“ im Staate. Die Politiker hingegen nehmen die Umfragen ausgesprochen ernst. So wurde Balladurs Wahlkampf geradezu dynamisch, nachdem festgestellt worden war, daß er das Volk langweile, und sein Kontrahent Chirac versucht sich in staatsmännischen Posen, seit ermittelt wurde, daß er wie eh und je als draufgängerisch gilt.
Sollten die Demoskopen auch dieses Mal widerlegt werden, haben sie immerhin eine Entschuldigung parat: Die „Umentscheidung im letzten Moment“. Denn nach Ablauf dieser Woche dürfen keine Meinungsumfragen mehr über die Präsidentschaftswahlen veröffentlicht werden. Mit den nebeneinanderplazierten bunten Kurven über Politik ist dann erst mal Schluß. Die Medien müssen wieder zu den Fragen nach Sex und Rassismus zurückkehren. Dorothea Hahn
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