piwik no script img

„Orientierung“ auf Tag der deutschen Einheit

■ Neuauflage des Modrow-Prozesses erst im Oktober / Vorher Amnestie?

Dresden (taz) – Das hat er aber fein hingekriegt. Am Montag nachmittag ließ der 72jährige Rechtsanwalt Friedrich Wolff das Landgericht Dresden wissen, er sei erkrankt. Gestern sollte vor der 4. Strafkammer die Revisionsverhandlung gegen Hans Modrow beginnen. Der einstige 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden und drei weitere ehemalige SED- Funktionäre sollten sich erneut für Beihilfe zur Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen 1989 verantworten. Wolff ist Modrows Anwalt. Nun mußte der Prozeß verschoben werden, auf Oktober.

„Eine kluge Entscheidung“, lobt PDS-Chef Lothar Bisky. Vielleicht kommt bis dahin ein Amnestiegesetz?

Den Prozeßbeteiligten würde manches erspart. 22 ZeugInnen waren geladen, so Ex-Politbüromitglied Horst Dohlus, in der SED-Führung zuständig für „Kaderfragen“, und der bereits 1992 wegen Beihilfe zur Wahlfälschung zu einer Bewährungsstrafe verurteilte Wolfgang Berghofer, Ex- Oberbürgermeister von Dresden. Wäre vor zwei Jahren allein gegen das Rentnertrio Lothar Stammnitz, Günter Witteck und Siegfried Neubert verhandelt worden, kein Hahn hätte mehr nach den Urteilen gegen diese zu Amtszeit treuen Parteisoldaten aus SED-Bezirksleitung und Rat des Bezirkes gekräht. Gemeinsam mit Modrow wurden sie zwar der Wahlfälschung für schuldig befunden, aber nur mit einer Geldstrafe verwarnt. Modrow aber ist noch politisch aktiv. Der „Hoffnungsträger“ des Westens und DDR-Gorbi ist heute die wichtigste Integrationsfigur der SED-Nachfolgepartei.

Ende vergangenen Jahres hat der Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Urteile aufgehoben. So soll das Gericht nun klären, ob sich Hans Modrow kraft seiner Machtfülle als 1. Sekretär der „psychischen Beihilfe“ zur Wahlfälschung schuldig gemacht hatte, als er am 6. Mai 1989, dem Vorabend der Kommunalwahlen, an seinem Tisch die Funktionäre der SED- Stadtorganisation Dresden versammelte.

Der Angeklagte kann erklären, er habe „Orientierungen“ gegeben, aber nicht auf 98 Prozent statt 89, sondern auf die „politische Zielsetzung“ dieser Wahlen im 40. Jahr der DDR. Modrow hatte auch „Orientierungen“ bekommen; jeder mausgraue Stadtbezirksfunktionär gab wieder „Orientierungen“ weiter, immer im selben unerträglichen Chiffrierjargon. Das DDR-System war „Orientierung“. Soweit das spätestens seit dem Berghofer-Prozeß bekannte trübe Innenleben der „Partei- und Staatsführung“ bei der „allseitigen Vorbereitung und Durchführung“ von „Wahlen“. Läßt sich das Gericht darauf ein, die „Orientierungen“ als Aufforderung zur Straftat zu bewerten? Der Vorsitzende Richter, Thomas Spiegelhalter, kann dankbar sein, wenn er sich auf diese wacklige Eselsbrücke nicht begeben muß. Detlef Krell

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen