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Kapitulation im Wohnzimmer

■ Berlin vor fünfzig Jahren: Im heutigen Wohnhaus Schulenburgring 2 in Tempelhof wurde vor fünfzig Jahren der Waffenstillstand für Berlin unterzeichnet / Heimlich anwesender Zeuge wurde im Schrank ohnmächtig

Nicht weit vom Flughafen Tempelhof gelegen ist der Schulenburgring eine reine Wohnstraße. Die Nummer 2 ist eines der besseren Häuser dieser Gegend. Es ist ein mächtiges Doppelhaus vom Beginn unseres Jahrhunderts, in dem rote Teppiche die Treppen hochfließen und vor schweren Holztüren enden, hinter denen Wohnungen liegen. Dennoch bliebe das Haus nicht weiter im Gedächtnis, gäbe es nicht am Eingang ein kleines Messingschild: „In diesem Haus wurde am 2. Mai 1945 der Waffenstillstand für Berlin unterzeichnet“.

Am 24. April hatten die 8. Gardearmee von General Schukow und die 1. Gardepanzerarmee unter General Katukow Rudow erreicht. Zwei Tage später nahmen ihre Truppen den Flughafen Tempelhof ein. Der Kampf um Berlin war eigentlich schon längst entschieden, als am 27. April die Rote Armee das Haus am Schulenburgring 2 beschlagnahmte. In die erste Etage zog der Generalstab der 1. Gardepanzerarmee, von wo aus er die Kämpfe um den Reichstag und die Reichskanzlei leitete. In einer Wohnung im Hochparterre richtete General Schukow, der gefeierte Retter von Stalingrad, seinen Kommandostab ein. Das Haus war günstig gelegen und eines der wenigen, die nicht in Schutt und Asche lagen.

Die deutsche Heeresleitung und die noch in Berlin verbliebenen Nazigrößen hatten sich indessen im Führerbunker unter der Reichskanzlei verschanzt. Nachdem Hitler am 30. April Selbstmord begangen hatte, beauftragte der neue Reichskanzler Goebbels den letzten Chef des Generalstabes, General Krebs, mit den Russen einen Waffenstillstand auszuhandeln. In der Nacht zum 1. Mai überquerte dieser in Begleitung von Oberst Dufving und einem Dolmetscher die feindlichen Linien und traf am frühen Morgen am Schulenburgring ein.

„Für die Verhandlungen hatte man ein Zimmer vorbereitet, das in seinem früheren Leben einmal Speisezimmer gewesen war. Eßtische, Anrichte und Radiotischchen erinnerten daran. An der Wand hing eine recht ordentliche Kopie des heiligen Abendmahls“, erinnert sich der Dichter Djewgeni Dolmatowski, der als Kriegsberichterstatter den Weg der Roten Armee von Moskau nach Berlin begleitet hatte und dessen Dienstgrad im Soldbuch schlicht als „Dichter“ angegeben war. Mit seinem Schriftstellerkollegen und Korrespondenten der Prawda Wsjewolod Wischnewski war er von General Schukow beordert worden, ein Protokoll der Verhandlungen anzufertigen. Mit ihnen im Schlepptau kam der sowjetische Komponist Blanter, der eigens von Stalin angewiesen war, den Sieg über Berlin in einer Symphonie zu vertonen. Da er in Zivil erschien und deshalb nicht als Offizier ausgegeben werden konnte, wurde er in einem Schrank versteckt.

Die mehrstündigen Verhandlungen verliefen zäh und ergebnislos, mit der einzigen Überraschung, daß der im Schrank inzwischen ohnmächtig gewordene Komponist aus diesem herausfiel. General Schukow beharrte auf einer bedingungslosen Kapitulation Berlins, wohingegen General Krebs um einen bloßen Waffenstillstand feilschte. Nach neun Stunden kehrte Krebs in den Bunker unter der Reichskanzlei zurück, wo er wenige Stunden später Selbstmord beging.

Unterdessen waren die Kämpfe in der Stadtmitte weitergegangen. Am 2. Mai sah der letzte Befehlshaber des Verteidigungsbereichs Berlin, General Weidling, keine andere Möglichkeit mehr, als zu kapitulieren. Zum zweiten Mal begab sich eine deutsche Delegation in den Schulenburgring. Diesmal gab es nicht mehr viel zu verhandeln. Weidling unterschrieb die Kapitulation, die wenige Stunden später durch Lautsprecher bekanntgegeben wurde.

Heute hat der Eichentisch seinen Weg ins Mariendorfer Heimatmuseum gefunden. Im Hochparterre wohnt die Portiersfrau Granados, die dafür sorgt, daß die Teppiche ordentlich fließen und das Messing glänzt. Das Zimmer sieht aus wie tausend andere Wohnzimmer auch. An der Stelle, an der damals der Eichentisch stand, steht heute eine rote Ledergarnitur. Vor den Fenstern hängen weiße Gardinen, und im Schrank, in dem der sowjetische Komponist nach Luft rang, wird wahrscheinlich Wäsche lagern. Nachdem Mieter Anfang der achtziger Jahre eine Broschüre über die Geschichte des Hauses herausgegeben hatten, kamen öfters Gäste in den Schulenburgring. Auch zum 50. Jahrestag der Kapitulation wird Publikum erwartet. Das aktuelle Problem der Mieterin des Hochparterres ist jedoch nicht historischer, sondern moderner Art. Vor zehn Jahren wurden die Mietswohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt. Frau Granados konnte nicht kaufen und hat seither Angst vor einer Kündigung. Kerstin Schweizer

wird fortgesetzt

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