: „Der Mensch, der mit dem Rechner lebt“
■ Studium im Jahr 2020 – Der Bremer Informatik-Professor Klaus Haefner zur Zukunft der Universität
Professor Dr. Klaus Haefner, 58 Jahre alt, ist Informatiker und Verkehrswissenschaftler an der Bremer Universität. Er streitet für eine neue, die Realität der computerisierten Gesellschaft einbeziehende, Bildungreform. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, in welche Richtung sich die Hochschulen seiner Meinung nach entwickeln sollen und werden.
taz: Wie stellen Sie sich ein Studium im Jahre 2020 vor?
Klaus Haefner: Grundsätzlich wird das Studium in Zukunft sehr viel stärker die Informationstechnik nutzen, das heißt das Konzept der psychischen Mobilität mit Informationstechnik, also Nutzung des Rechners und die Entwicklung des eigenen Geistes werden sehr viel stärker gemeinsam vorangebracht werden. Wenn man das praktisch sieht, kann man sagen: Zunächst wird jeder Student einen tragbaren Rechner haben, der es ihm erlaubt, unmittelbar auf das Wissen der Welt zuzugreifen. Im Jahre 2020 wird man das Wissen einer Universitätsbibliothek leicht unterbringen auf dem, was wir heute CD-Rom, den silbernen Speicher, nennen. Die hat man also immer bei sich.
Zweitens wird das „Denkzeug“, dieser kleine persönliche Rechner, die Möglichkeit haben, drahtlos mit der ganzen Welt über Satelliten zu kommunizieren, so daß man sich schnell mal mit einem Studenten in Berkeley unterhalten kann zu irgend einer Lösung eines mathematischen Problems. Und drittens wird die Verarbeitungsleistung dieser Denkzeuge unvorstellbar größer sein als alles, was wir heute kennen. Ein System gekoppelter Differentialgleichungen zweiter Ordnung zu lösen wird nur noch Millisekunden brauchen, heute arbeiten Mathematiker Wochen daran.
Daraus ergibt sich eine ganz andere Struktur des Studiums. Es wird also darauf ankommen, typisch menschliche Qualifikationen zu entwickeln. Die gesamte kognitive Last, also alles, was wir heute an Routinen lernen oder zu vermitteln versuchen, das wird alles im wesentlichen in Form von sehr mächtigen Programmsystemen im Rechner implementiert sein.
Wie wird denn dann der Studienalltag aussehen, wird es gar keine Universitätsgebäude mehr geben, sitzen die StudentInnen zuhause?
Nein, ganz im Gegenteil. Das Konzept der psychischen Mobilität mit Informationstechnik heißt, daß wir gerade die typischen menschlichen Qualifikationen massiv fördern müssen. Dazu gehört zum Beispiel Kommunikationsfähigkeit miteinander. Und das lernt man natürlich nur, wenn man in einer Einrichtung ist, wo man mit anderen Studentinnen und Studenten zusammenarbeiten kann. Die Fähigkeit, Dinge zu formulieren, vorzutragen, mit anderen über wichtige Probleme zu sprechen sind ganz zentrale Bereiche. Die ganze Frage nach Kreativität und Innovationsfähigkeit läßt sich nicht alleine irgendwo trainieren, sondern das ist ein typischer Prozeß, der in der Gruppe mit anderen stattfinden muß. Die Frage, wie organisiere ich mein Wissen, ist eine typische Aufgabe, die man gemeinsam behandeln muß.
Ich gehe also davon aus, daß die Lehrveranstaltungszeiten im wesentlichen bleiben werden, aber die Inhalte werden sich dramatisch ändern. Die Fülle des Stoffes, die heute vermittelt wird, wird deutlich zurückgefahren werden, zugunsten dieser Schlüsselqualifikationen: Sich schnell in ein Problem einzuarbeiten; ein Projekt zu organisieren; Texte zu produzieren, die man natürlich über die Sprache eingibt, nicht mehr auf der Tastatur. Kein Mensch wird im Jahr 2020 noch eine Tastatur anfassen. Es wird möglich sein, über Augenbewegung unmittelbar ein Menü auf einer Rechneroberfläche zu steuern. Es gibt sogar Leute, die behaupten, im Jahre 2020 hätte man sowieso nur noch eine Elektrode im Gehirn und einen kleinen Sender, eine kleine Antenne, und könne dann direkt kommunizieren. Ob das wirklich funktioniert, wage ich noch ein bißchen zu bezweifeln. Aber der ständige Kontakt und die sofortige Verfügbarkeit des Denkzeuges, das sind strukturelle Veränderungen, die ganz tief gehen.
Das heißt zurück zum Bremer Reform-Modell: Das Grundwissen trägt man im Computer immer bei sich, und an der Universität findet Kleingruppenunterricht statt, um Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Kreativität zu trainieren?
Ja, das ist tendenziell die Richtung. Leider haben wir es bisher in Deutschland nicht geschafft, solche nach vorne gerichteten Curricula zu entwickeln, weder für die Schulen, noch für die Hochschulen. In den USA ist das schon ein Stück weiter und da sieht man, wo das hinführt: Daß man sich sehr deutlich am Fach klar macht, welche Aufgaben kann der Rechner besser, schneller und zuverlässiger realisieren als das Gehirn. Und daß man die Aufgaben dann gar nicht mehr dem Menschen aufgibt. Machen wir das mal für die Mathematik: Wenn es also gilt, in der Mathematik reine Operationen abzuwickeln, dann ist der Rechner natürlich sehr viel besser. Wenn es aber gilt, einen mathematischen Beweis zu erfinden oder ein textlich formuliertes Problem als Modell zu mathematisieren, dann sieht man ganz deutlich, daß das noch lange eine Aufgabe des menschlichen Gehirns sein wird. Aber wenn ich dann die Gleichungen habe, die irgendein Modell beschreiben, dann ist es ganz simpel, die an den Rechner zu geben. Dieses eigentliche Ausrechnen und die Lösungen von Gleichungssystemen, das übernimmt dann der Rechner.
Oder betrachten wir die Germanistik. Wenn es also gilt, eine Textanalyse zu machen, dann macht das natürlich der Rechner, weil der in der Lage ist, sehr schnell alle textanalytischen Fragen zu beantworten. Aber wenn es um die Frage geht: Was für eine Art von Untersuchung mache ich eigentlich, bei welchem Text will ich eigentlich was wissen, das ist natürlich eine menschliche Aufgabe. Die muß erlernt werden. Oder wenn ich einen neuen Roman schreiben will: Die Inhalte, die ich da reinstecke, die sind zunächst Aufgabe des Menschen. Nur, die textliche Struktur zu finden, das ist etwas, was der Rechner kann. Man geht heute davon aus, daß etwa 20 Prozent der amerikanischen Belletristik rechnergeneriert sind. Rechnergeneriert! Das heißt also, wenn man weiß, was seichte Belletristik ist, dann kann man das auch einen Rechner machen lassen. Aber wenn man einen besonderen neuen Roman schreiben will, dann muß man sich eben erst mal Gedanken machen: Was soll der eigentlich, was sind die Ziele, will ich nur Umsatz haben, oder will ich auch noch etwas neues vermitteln. Dieses sind Aufgaben, die dann in der Germanistik zu behandeln sind.
Wird es dann noch eine Massenuniversität geben, wie jetzt, oder werden ein solches Studium nur noch ganz wenige Menschen machen können?
Ich glaube, daß es Orte wie Universitäten weiter geben wird, auch im Jahre 2020, daß da viele Rechner rumstehen, die gar nicht mehr so groß sind. Daß da andere Curricula abgewickelt werden, ist ein anderes Problem. Ich glaube nicht, daß die strukturelle Situation sich wesentlich ändern wird, weil eben das Bedürfnis, angeleitet zu werden, miteinander zu sprechen, gemeinsam zu arbeiten, die sind einfach menschlich und die werden sich im Jahre 2020 nicht geändert haben.
Die StudentInnenzahlen werden steigen, weil viele der heutigen „Defizite“ der Gehirne durch das Denkzeug kompensierbar sind. Mehr Menschen haben so eine Chance, komplizierte Probleme zu bearbeiten.
Was wird sich bis zum Jahr 2020 für die Professoren ändern?
Ja, die lieben Kollegen Professoren werden sich einiges einfallen lassen müssen. Erstens wird es darum gehen, durch eine vernünftige Reform der Inhalte der Lehre auf diese neuen Möglichkeiten bezug zu nehmen. Zweitens wird es sehr massiv darauf ankommen, in Deutschland insbesondere, auch die Inhalte dessen, was im Rechner organisiert ist, zu gestalten. Das fällt ja nicht vom Himmel, die Organisation von irgendwelchen Expertensystemen oder von Literaturbanken. Bisher ist erkennbar, daß die angelsächsischen Länder, insbesondere natürlich die USA, einen massiven Vorsprung haben. Die Masse der 5000 Datenbanken, die es weltweit gibt, stammt aus den USA, hat eine Struktur, die von Amerikanern bestimmt ist, hat im wesentlichen englischsprachige Dokumente. Das heißt also, im Jahre 2020 könnte sich Deutschland völlig anpassen an die amerikanische Struktur und deutsche Universitäten wären dann nur noch Spiegelbilder von amerikanischen. Dann könnten die lieben Kollegen verzichten darauf, ihre Inhalte auch in deutsch angemessen zu repräsentieren. Ich halte das, leider, für relativ wahrscheinlich. Die andere Möglichkeit wäre, daß wir deutsche Professoren, unser Wissen im Jahr 2020, im Zeitalter Europas, selber neu organisieren, neu strukturieren. Das wäre eine gigantische Aufgabe und würde wahnsinnige Arbeit fordern, von allen Kollegen. Mein Pessimismus sagt mir, das wird eher angelsächsisch ablaufen und wir werden uns dann im wesentlichen in Englich unterhalten.
Wird der Mensch immer dümmer, wenn die Maschine immer intelligenter wird?
Also man muß sehr generell sagen: Wir sind am Ende der Aufklärung. Die Aufklärung war ja ein Prozeß, wo man gesagt und geglaubt hat, man könne den Menschen im Sinne von Gleichheit und Gerechtigkeit ein konsistentes Wissen über die Welt vermitteln und die Menschen könnten dann emanzipiert, gebildet, verständnisvoll und politisch engagiert entscheiden. Ob das jemals realistisch war, ist auch eine Frage; aber im Prinzip wäre das bis in die 30er, 40er Jahre dieses Jahrhunderts noch eine Möglichkeit gewesen. Heute ist diese Zeit im wesentlichen vorbei und im Jahre 2020 wird sie völlig vorbei sein, denn wir haben mehrere Probleme. Das eine ist: Das Wissen der Welt ist mittlerweile derart mannigfaltig geworden und derart gigantisch angewachsen, daß es überhaupt keine Chance gibt, es ohne massiven Computer-Einsatz noch irgendwie zu ordnen oder verfügbar zu machen. Universalgenies oder Universalgelehrte hat es ja nur noch im 18. Jahrhundert gegeben. Heute sind wir auch in einem Spezialfach kaum noch in der Lage, irgendwas zu überschauen, im Jahre 2020 wird das niemand mehr können. Deswegen müssen wir uns verabschieden von der alten Vorstellung, Bildung wäre aufklärerisch in dem Sinne, daß ein Gesamtverständnis noch möglich ist. Dies ist schlicht nicht der Fall. Das heißt, der Mensch wird sich jenseits dieses Aufklärungsgedankens eben an das Konzept der psychischen Mobilität und Informationstechnik, ich sage mal, „gewöhnen“ müssen. Ich habe auch schon einen passenden Namen für diesen Menschen entwickelt: Homo sapiens informaticus: Der Mensch, der mit dem Rechner lebt. Nicht mehr der Homo sapiens sapiens, der weise weise Mensch. Und daraus ergeben sich ganz andere Strukturen.
Wenn Sie Intelligenz verstehen in dem Sinne, daß man sagt: Es gilt, sich selber in einer komplexen Umgebung vernünftig einzuordnen, vernünftig zu bewegen, dort zu überleben, dann glaube ich, diese Art von Intelligenz wird weiterhin für den Menschen sehr wichtig sein. Aber wenn man Intelligenz versteht im Sinne von Hochqualifikation in irgendeinem Fachgebiet, dann wird man sehen, daß Menschen im Jahre 2020 gegenüber Rechnern kaum eine Chance haben. Das Superwissen wird eben an wenigen Stellen auf der Welt erzeugt und dann von sehr vielen direkt genutzt, der Einzelne hat da kaum noch eine Chance.
Nochmal zurück zum Thema Computer-Einsatz an den Universitäten: Gibt es hier an der Uni Bremen Ansätze, verstärkt mit Computern zu arbeiten?
Also das ist eine sehr heikle und komplizierte Frage. Man muß zunächst zur Kenntnis nehmen, daß mittlerweile in den Naturwissenschaften und in den Technik-Fächern die private Ausstattung der Studenten mit PCs relativ hoch ist. Sie liegt bei etwa 80 oder 90 Prozent, so daß also jeder Student aus diesem Bereich eigentlich täglich in irgendeiner Weise damit umgeht. In den Sozial- und Geisteswissenschaften ist das deutlich geringer, da kann man sagen liegt die Ausstattung so bei 40, 50 Prozent im Mittel.
Auf der organisatorischen Ebene der Uni Bremen gab es ja die Bemühungen, durch das Computer-Investitions-Programm CIP den Studenten in der Universität Hardware und in beschränktem Umfang auch Software zur Verfügung zu stellen. Das ist erstaunlich wenig angenommen worden. Es gibt also ein paar Räume mit Rechnern für alle Studierenden hier in der Uni, die stehen schlicht leer. Das scheint also der falsche Weg gewesen zu sein. Das heißt, die Universität ist jetzt dabei, über das „Zentrum für Netze“ zum Beispiel, mehr die Netzidee in den Vordergrund zu stellen. Sie ist dabei, durch den Kauf von Lizenzen von Software auch den Studenten ein bißchen was an Software zur Verfügung zu stellen.
Die Bibliothek bastelt immer noch an der Frage: Wie kann endlich der Bibliotheksbestand elektronisch breit verfügbar gemacht werden. Es gibt in der Bibliothek eine Informationsvermittlungsstelle, wo man im Prinzip an die Datenbanken der Welt ran kann, aber das ist nicht billig. Eigene Erfahrungen zeigen, daß das eher so bei 100, 200 Mark pro Recherche liegt und da kann man sich vorstellen, daß das StudentInnen unter normalen Bedingungen eben nicht nutzen können.
Computer-unterstützer Unterricht im klassischen Sinne, in dem wirklich Lehrveranstaltungen massiv durch Computer unterstützt werden, finden nicht statt. Das hat die Uni Bremen ja Anfang der 70er Jahre verworfen, damals hätte sie eine gute Chance gehabt, computerunterstützten Hochschulunterricht zu implementieren, zu entwickeln und daraus eine Tradition zu machen. Die Möglichkeit, in einzelnen Veranstaltungen gezielt mit dem Rechner umzugehen, wird von einer Reihe von Kollegen genutzt.
Aber ein strategisches Programm, in dem entwickelt wird, wie und wo Informationstechnik im Lehrbetrieb eingesetzt werden soll, das gibt es nicht. Vielleicht liegt das ja daran, daß man sich hier in Bremen mit dem Programm des Projekt-Studiums bereits einmal die Finger verbrannt hat.
Fragen: Elke Gundel
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