: Serviceleistungen für das Gewissen
PhilosophInnen fordern Vernetzung und systematische Förderung der Bioethik ■ Von Klaus-Peter Görlitzer
Soll die sogenannte „Bioethik“ in Deutschland systematisch gefördert, etabliert und vernetzt werden? Diese forschungspolitische Grundsatzfrage wird in gut drei Wochen beantwortet – nicht im Bundestag, sondern im politischen Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die von Bund und Ländern finanziert wird.
Im 39köpfigen DFG-Senat versammelt sind ProfessorInnen – fast ausschließlich Männer, die auch Parlamente und Regierungsstellen beraten. Voraussichtlich am 4. Mai werden sie über die Einrichtung neuer Schwerpunktprogramme entscheiden.
Einer der Anträge trägt den Titel „Biomedizinische Ethik (1995–2001)“; eingereicht haben das Programm die PhilosophInnen Dieter Birnbacher von der Universität Dortmund, Eve-Marie Engels von der Universität Kassel und der Münsteraner Ludwig Siep. In Kooperation mit über fünfzig weiteren WissenschaftlerInnen möchte das Professorentrio mit zahlreichen Forschungsprojekten bioethische „Klärungen“ herbeiführen; sie seien „besonders angezeigt für brisante und umstrittene Biotechnologien“, heißt es in dem Antrag.
„Beurteilungshilfen“ würden in den Bereichen Medizin, biologische Forschung, Pharmaindustrie und Tierschutz erhofft. Die „Nachfrage nach Ethik“, schreiben die AntragstellerInnen, sei „keine vorübergehende Mode und keine bloße Reaktion auf eine sich ankündigende Rationierungspolitik, sondern Ausdruck einer objektiv bedingten Unsicherheit in den Werten und Leitvorstellungen“.
„Vorrangig“ bestehe Bedarf nach Begriffserklärungen: Definiert werden müßten „themenübergreifende Sachkategorien“ wie Leben, Tod, Organismus, Person, Mensch, Leiden, Natur, Natürlichkeit. Zu klären seien „Beurteilungskategorien“ wie Gesundheit, Lebensqualität, Zumutbarkeit, Menschenwürde, Natürlichkeit, Normalität. Und schließlich gehe es auch um Festlegung klarer „Beurteilungsverfahren“ wie “,praktische Vernunft‘ in der Bewertung von gesundheitlichen Risiken, Zahlungsbereitschaftsanalyse und die utilitaristische ,Verrechnung‘ von Leben gegen Leben“.
Deutsche PhilosophInnen, meinen die AntragstellerInnen, müßten umdenken. Bisher nämlich gebe es hierzulande „eine gewisse Schwellenangst gegenüber Praxisfragen“. Gegenüber den USA und den west- und nordeuropäischen Ländern habe Deutschland einen „Nachholbedarf an professionell philosophischer und interdisziplinärer Diskussion bioethischer Fragen“. Die entsprechende Literatur stamme zu mehr als neunzig Prozent aus den USA. „Qualitätssicherung und Nachwuchsförderung“ seien daher Ziele des gewünschten Programms.
Der Antrag dürfte den SenatorInnen in weiten Teilen bekannt vorkommen. Bereits 1993 hatte sich Birnbacher unter dem Leitwort „Bioethik“ bei der DFG gemeldet und einen „Bedarf nach philosophischer Klärung und Fundierung intuitiv getroffener ethischer Urteile“ behauptet – ohne Erfolg. Warum der Antrag damals nicht zur Förderung ausgewählt wurde, ist unbekannt – die Konkurrenz ist groß und der Senat muß seine Entscheidungen nicht öffentlich begründen. Nun dürften die Chancen besser stehen, denn die DFG betont in ihrem Jahresbericht für 1993, Bioethik sein ein „in Deutschland nach wie vor stark entwicklungsbedürftiges Forschungsfeld“.
„Die Initiative zur Einrichtung eines neuen Schwerpunktprogramms“, erläutert die DFG, „geht in aller Regel von einer Gruppe besonders qualifizierter Wissenschaftler aus“. Tatsächlich sind die AntragstellerInnen gut beschäftigt – mit Stellungnahmen zum Einsatz medizinischer Techniken, deren Zumutbarkeit sie in den nächsten Jahren eigentlich erst bioethisch klären wollen. Vor allem Birnbacher ist ausgesprochen vielseitig: 1986 befürwortete er bei einem Tübinger Expertengespräch im Grundsatz, was in der Bundesrepublik seit 1990 strikt verboten ist, der Europarat aber jetzt erlauben will: Forschung an menschlichen Embryonen. 1991, bei der Jahrestagung medizinischer Ethik-Kommissionen zu Problemen der genetischen Beratung und pränataler Diagnostik, folgerte der Philosoph aus dem „Prinzip der Autonomie“, daß Abtreibungen wegen unerwünschten Geschlechts des Kindes erlaubt sein sollen. „Insgesamt“, so Birnbacher, „scheinen die Gründe gegen eine Geschlechtsselektion nicht stark genug, um ein staatliches Verbot zu rechtfertigen.“ Im selben Jahr verfaßte Birnbacher in einem Arbeitskreis der Bundesärztekammer (BÄK) „Richtlinien zur Verwendung fetaler Zellen und fetaler Gewebe“ – gebilligt wurde darin, was Neurochirurgen in Hannover inzwischen tatsächlich vorbereiten: die Übertragung von Zellen abgetriebener Embryonen in die Gehirne von Parkinsonpatienten. Und mitgeschrieben hat Birnbacher auch an einer Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK von 1993. Sie setzt den „endgültigen Ausfall der gesamten Hirnfunktion (Hirntod)“ mit dem Tod eines Menschen gleich. Dieses Todeskonzept ist zwar umstritten, wurde aber in den Gesetzentwurf zur Transplantation übernommen.
Die Hirntod-Definition unterstützt auch Antragsteller Ludwig Siep, der ebenso wie Birnbacher Mitglied der nordrhein-westfälischen „Forschungsgemeinschaft Bioethik“ ist. Im Rahmen ihres größten Projekts – „Die ,Natürlichkeit‘ der Natur und die Zumutbarkeit von Risiken“ – fragt Siep: „Ist der Leichnam eine ,herrenlose Sache‘, oder hat der Wille der verstorbenen Person noch Verfügungsrechte über ihn?“ Auch zu Erbguttests hat Siep Vorschläge: Genetische Reihenuntersuchungen von Verwandten könnten „ein moralisches Gebot“ sein – vorausgesetzt, eine wirksame Therapie der diagnostizierten Erbkrankheit stehe zur Verfügung. „Dann“, so Siep, „wäre eine Berufung auf das Recht auf Nichtwissen eine Art unterlassene Hilfeleistung.“
Die bioethische Fragetechnik beherrscht schließlich auch die dritte Antragstellerin: Eve-Marie Engels fragte 1991 auf der Humangenetik-Tagung der Ethik-Kommissionen, „ob ein schwerbehindertes Kind nicht tatsächlich zu seinen Eltern sagen kann, daß diese es nicht hätten zeugen sollen, wenn sie um das Risiko der Behinderung wußten. Wäre dies ein sinnloser Satz?“ Die Antwort gab die Philosophieprofessorin gleich mit: „Ich denke nicht, daß dieser Satz, aus der Perspektive eines behinderten Kindes gesprochen, sinnlos und unlogisch wäre.“
Neben Birnbacher, Siep und Engels sollen über fünfzig weitere WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Disziplinen erklärt haben, falls das Programm „Biomedizinische Ethik“ eingerichtet würde, wollten sie daraus Gelder für Forschungsvorhaben abrufen. Auf der Liste der potentiellen TeilnehmerInnen stehen auch einschlägig bekannte Namen: Die Direktoren des Bonner Instituts für Wissenschaft und Ethik, Ludger Honnefelder und Carl Friedrich Gethmann, sind ebenso dabei wie der Bochumer Hans-Martin Sass, der seine philosophischen Güterabwägungen als „Serviceleistung für das individuelle Gewissen“ anpreist.
Mitmachen wollen laut Umfrage des Koordinators Birnbacher aber auch einige WissenschaftlerInnen, die in der Öffentlichkeit bislang nicht bloß gerechtfertigt haben, was technisch machbar ist, so etwa die Hamburger Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim.
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