: Das Austauschprogramm Juden gegen Arier
■ Bergen-Belsen war als „Aufenthaltslager“ konzipiert / In Extrabaracken wurden Menschen als „Geiseln“ zum Austausch gegen internierte Deutsche gehalten
Als britische Truppen am 15. April 1945 das Konzentrationslager Bergen-Belsen erreichten, befreiten sie über 60.000 halbtote Häftlinge. Beinahe ein Viertel von ihnen starben dennoch bis Mitte Juni 1945 an Seuchen und an den Folgen der monatelangen Unterernährung. Unter den Zehntausenden von kranken Häftlingen befanden sich in einem besonders abgesperrten Teil, dem sogenannten „Sternlager“ auf dem Gebiet des ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenenlagers, auch etwa 5.000 sogenannte „Austauschjuden“, darunter ganze Familienverbände.
In diesen 18 Baracken des „Sternlagers“ von Bergen-Belsen hausten neben französischen und albanischen Juden ab Anfang 1944 vor allem Niederländer. Sie alle waren von den Nazis im „Durchgangslager“ Westerbork zum vorläufigen Überleben in Deutschland aussortiert worden. Sie alle galten als „Geiseln“, sollten nicht wie die anderen 110.000 niederländischen Juden nach Auschwitz und anderswo deportiert, sondern entsprechend eines vom Auswärtigen Amt schon Anfang 1943 ausgedachten und vom Reichsführer SS Himmler abgesegneten Planes in Schüben gegen in Feindstaaten – vor allem im Commonwealth – internierte deutsche Reichsbürger ausgetauscht werden. Zum Beispiel gegen die zweitausend Templer, die seit dem 19. Jahrhundert in Palästina lebten und die die britische Mandatsregierung gerne los werden wollte. Das ganze Lager Bergen-Belsen war ursprünglich nur als „Aufenthaltslager“ für diese potentiellen „Austauschjuden“ eingerichtet worden, genau 10.000 sollten es laut Plan einmal sein. Daß dieses spezielle „Sonderlager“ dennoch zum richtigen Konzentrationslager wurde, zu dem horror-camp auf deutschem Boden, ist eine andere Geschichte.
Alle diese „Austauschjuden“ aus verschiedenen Ländern besaßen besondere Papiere, standen auf „Sperrlisten“ und waren deshalb für die Buchhalter des Todes „blockiert“. Sie besaßen entweder eine doppelte Staatsbürgerschaft aus Vorkriegszeiten oder wie die Familie von Werner Hasenberg sogenannte „Promesas“, ausgestellt ab dem Jahre 1939. Diese „Promesas“ waren Versprechungspapiere zweiter Klasse, nämlich zumeist von schwedischen oder anderen Konsuln neutraler Staaten ausgestellte Blankozusagen, daß die Betreffenden bei einer Ankunft in einem mittel- oder südamerikanischen Staat, aber auch in Palästina, gültige Einbürgerungspapiere erhalten würden. Es gab auch einige „Promesas“ aus den Vereinigten Staaten, die von den dortigen Behörden wegen der Quoteneinwanderungsregelung nicht akzeptiert wurden. Die Nazis nannten diese Papiere „Gefälligkeitspässe“ und akzeptierten sie in der Regel ebenfalls nicht – wie etwa im Falle der polnischen Juden, die sich über Schwarzmarktgeschäfte in Warschau ebenfalls Promesas besorgt hatten. So wurde im Oktober 1943 ein ganzer Zug polnischer Juden mit Promesas zwar erst aus Polen ins „Aufenthaltslager“ Bergen- Belsen deportiert, dann aber nicht wie versprochen ins neutrale Ausland weitergeschickt, sondern nach Auschwitz. Erst an der Rampe von Birkenau merkten diese 1.700 Menschen, daß sie belogen worden waren. Vor den Toren der Vergasungskammern rebellierten sie, eine Frau entriß einem SS-Mann den Revolver, erschoß ihn und verletzte einen anderen schwer. Keiner der polnischen Promesas-Besitzer überlebte.
Die Mehrheit der 3.670 holländischen „Austauschjuden“, die ab Anfang 1944 in mehreren Schüben aus dem „Durchgangslager“ Westerbork ins „Aufenthaltslager“ Bergen-Belsen verbracht worden waren, hatte mehr Glück. Von den insgesamt 110.000 aus den Niederlanden deportierten Juden hatten nur sie eine echte Überlebenschance.
Nur die Hoffnung, irgendwann einmal ausgetauscht zu werden, hielt viele von ihnen am Leben. Denn wirklich gegen internierte Arier ausgetauscht wurden nur insgesamt 550 Personen, darunter etwa 350 Holländer. Es hätten mehr sein können, wenn die Nazis bei den durch das Internationale Rote Kreuz geführten Verhandlungen nicht immer neue Hürden aufgebaut hätten (zum Beispiel zusätzlich horrende Geldforderungen) und die Alliierten diese Bedingungen dennoch akzeptiert hätten. Fünf Austauschaktionen kamen trotzdem zwischen Anfang 1944 und Kriegsende zustande. Darunter der von Werner Hasenberg geschilderte „Südamerikatransport“. Von diesen 301 Personen, die am 21. Januar 1945 das Lager verließen, erreichten nur 136 am 25. Januar tatsächlich die Schweiz. Vierzig Zuginsassen mußten im Austausch gegen alliierte Kriegsgefangene in Biberach aussteigen und 125 in Ravensburg. Einige starben unterwegs. Wie Werner Hasenbergs Vater. Anita Kugler
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