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Mit 1.200 Mark zum Bürgermeister

In Tokio und Osaka gewinnen zwei Außenseiter überraschend die Bürgermeisterwahlen / Beide stützen sich nur auf Bürgerinitiativen / Schwere Niederlage der etablierten Parteien Japans  ■ Aus Tokio Georg Blume

Wie wird man mit einem Wahlbudget von umgerechnet 1.200 Mark Bürgermeister in der reichsten Stadt der Welt? Der 62jährige Tokioter Schriftsteller Yukio Aoshima wird in seinen nächsten Romanen Fragen dieser Art beantworten können, vorausgesetzt, er kommt dann überhaupt noch zum Schreiben. Denn ab sofort wird der für seine Novellen preisgekrönte Autor und erfolgreiche Filmregisseur seinen Arbeitstisch im milliardenteuren neuen Tokioter Rathaus beziehen. Eine relative Mehrheit von Tokios knapp zehn Millionen stimmberechtigten Bürgern wählte den parteilosen Linkspolitiker und krassen Außenseiter Aoshima gestern völlig überraschend zum neuen Stadtgouverneur. Dabei hatte der erfolgreiche Kandidat in der ganzen Stadt nicht ein Wahlplakat kleben lassen und nicht eine einzige Wahlkampfveranstaltung abgehalten. Auch gegenüber den Medien war Aoshima nur mit wenigen Interviews, die er alle in seiner kleinen Apartmentwohnung gab, in Erscheinung getreten. In dem von Aoshima am Freitag vorgelegten Wahlbudget von 1.200 Mark waren bereits sämtliche Telefonrechnungen und Briefgebühren enthalten.

Aoshima erklärte seinen Erfolg am Sonntag abend mit dem Phänomen der Parteiverdrossenheit: „Bürger, die keine der etablierten Parteien unterstützen, sind eben nicht politisch desinteressiert. Sie haben nur bisher niemand gehabt, dem sie ihr Vertrauen schenken konnten.“ Tatsächlich hat sich Japans politisches Establishment bei den gestrigen Gouverneurswahlen in 43 Präfekturen die schallendste Ohrfeige seit Kriegsende eingefangen. Nicht nur in Tokio, auch in der zweitgrößten Stadt des Landes, Osaka, gewann ein parteiloser Politiker vor dem Einheitskandidaten der großen Parteien. Nokku Yokoyama, der neugewählte Bürgermeister von Osaka, kommt ebenfalls aus der Künstlerszene: Früher war er Theaterschauspieler. „Meine Kritik, daß alle Parteien Regierungsparteien sind, ist bei den Wählern angekommen“, analysierte Yokoyama gestern seinen Wahlerfolg.

Die beiden siegreichen Kandidaten sind für die japanische Öffentlichkeit indessen keine Unbekannten und haben beide bereits seit 1968 erfolgreich für das nationale Parlament kandidiert. Ihre politische Unterstützung ziehen Aoshima und Yokoyama ausschließlich aus Bürgerinitiativen. Insofern wird ihre Wahl vor allem als Niederlage der Regierungskoalition von Liberal- und Sozialdemokraten gedeutet werden. Die beiden Altparteien hatten sich erst im letzten Sommer zusammengetan, um dem Ansturm der nach dem Einbruch der liberaldemokratischen Einparteienherrschaft neu gegründeten Parteien zu widerstehen. Am Sonntag mußten sich ihre Kandidaten seither zum ersten Mal den Wählern stellen.

Aus der Regierungsniederlage konnte die Opposition im Parlament diesmal freilich kaum Vorteile ziehen. Die im Dezember gegründete Neue Fortschrittspartei, die auf nationaler Ebene fast so viele Abgeordnete wie die Liberaldemokraten stellt, versäumte es schlicht, in Tokio und Osaka eigene Kandidaten aufzustellen. Allerdings geschah das nicht zufällig: Zu verquickt sind die Lokalpolitiker der Opposition mit der Regierungsseite vor Ort, als daß sich überhaupt glaubwürdige Gegenkandidaten finden ließen.

„Die Demokratie wird sich jetzt vielleicht stabilisieren“, verkündete gestern der neue Tokioter Bürgermeister, Aoshima. Sein neuer Kollege in Osaka hat bereits versprochen, den dort ansässigen Ausländern erstmals in Japan ein kommunales Wahlrecht zu verschaffen – ein Vorhaben, das kürzlich vom höchsten japanischen Gerichtshof ausdrücklich erlaubt wurde. Wenn sie wollen, dann können die direkt gewählten Stadtregenten tatsächlich eine Menge verändern: Schon heute darf man deshalb in Tokio einen Börsensturz erwarten, weil mit Aoshima als Bürgermeister der Rettungsplan von Finanzministerium und Zentralbank für zwei bankrotte Tokioter Banken wahrscheinlich nicht mehr durchführbar ist.

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