: Früher Tod aus Deutschland
Der Arbeiter Necati Demirci starb an Lungenkrebs in seiner Heimat Istanbul. Er hat in den Atomfabriken von Siemens gearbeitet, aber der Konzern weist jede Verantwortung von sich ■ Aus Frankfurt Franco Foraci
Zuletzt spuckte er eitriges Blut und sprach im Flüsterton. Das Fieber war hoch. Necati Demirci ist am Samstag in seiner Heimatstadt Istanbul gestorben. 48 Jahre alt ist er geworden. Die Arbeit in Deutschland hat sein Leben verkürzt. Necati Demirci litt an Lungenkrebs. Der Marburger Strahlenschutzprofessor Horst Kuni und die Bremer Physikerin Ingrid Schmitz-Feuerhake sind sicher, daß die Krankheit auf einen Unfall im Siemens-Forschungslabor Karlstein in Bayern zurückgeht – ein Störfall allerdings, der offiziell nie einer war.
Demirci hatte zwischen 1983 und 1986 in den Hanauer Brennelementewerken (Alkem und Nukem) und in der auch zum Siemens-Unternehmen gehörenden KWU Karlstein gearbeitet. Dort war er als Gebäudereiniger für ein Subunternehmen fast täglich in besonders stark radioaktiv verseuchten Abschnitten der Produktions- und Versuchshallen eingesetzt.
Vor knapp zehn Jahren kam Necati Demirci bei Modernisierungsarbeiten an der Abwasseranlage des radioaktiven Labors in Karlstein auch mit dem hochgiftigen Isotop Americium 241 in Berührung. Aus einem Behälter trat radioaktive Flüssigkeit aus. Die Putzkolonne war – wie gewohnt – ungeschützt. Demirci mußte sofort in ärztliche Behandlung. Die Medizinier stellten später an seinem Körper einen zwanzigfach höheren Strahlungswert fest als bei Nukleararbeitern üblich. Einzelne Kleidungsstücke wiesen 41.000 Becquerel Cäsium-Strahlung auf. Normal sind 500 Becquerel.
Zweieinhalb Jahre später zeigte Demirci Siemens an. Der Krebs wuchs, ein Lungenflügel mußte herausoperiert werden. Das Atmen wurde immer schwieriger.
Die Firma Siemens lehnte jede Verantwortung für mangelnde Sicherheitsvorkehrungen ab. Vor den zuständigen bayerischen Gerichten war Demirci und sein Hanauer Anwalt Matthias Seipel erfolglos. Sie hatten den Siemens- Strahlenschutzbeauftragten Körperverletzung und unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen. Denn zur Verseuchungszeit waren keine Atemschutzmasken angeordnet.
Die Richter in Aschaffenburg sahen 1990 keinen „hinreichenden Verdacht“ für eine Straftat der Betreiber.
Außerdem fehle der für die Anklageerhebung nötige „Kausalbeweis“. Der konnte gar nicht endgültig erbracht werden, unter anderem weil Siemens noch Wochen nach dem Unfall keine Daten sichergestellt hatte und Messungen nur sehr spät vorgenommen worden waren. Gerichte und Experten mußten sich auf Schätzungen der Atomfirma und Rückrechnungen des Bundesgesundheitsamtes verlassen.
Jahrelang stritten Experten weiter über die Frage, ob Demircis Lungenkrebs auf das eingeatmete Plutonium-Zerfallsprodukt Americium 141 zurückzuführen sei oder aber auf sein Rauchen. Ebensolange hat sich die Berufsgenossenschaft geweigert, Demircis Forderungen nach Schmerzensgeld und Invalidenrente anzuerkennen. Der türkische Atomarbeiter bekam keinen Pfennig.
Für die Justiz ist der Fall seit Samstag abgeschlossen – es sei denn, Demircis Famile beantragt die Fortführung des Prozesses. Der Abwasserkeller im Labor von Karlstein, wo der Unfall passierte, darf seit fünf Jahren nur mit Schutzanzug betreten werden. Zum Demircis Tod in Istanbul wollte sich die Geschäftsleitung der Siemens-Werke in Hanau nicht äußern. Es habe keinen Sinn, neues Öl ins Feuer zu gießen.
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