: Anklage absichtlich verschärft
■ Widersprüche bei Zeugen im Prozeß gegen kurdisch-libanesische Gang
Ein schlechter Tag für die Einsatzgruppe 12 (EG 12) der Polizei und drei Kaufhausdetektive. Gemeinsam hatten sie im August 1994 offenbar versucht, zwei kurdisch-libanesischen Jugendlichen einen versuchten Totschlag anzuhängen. Der 18jährige Sait H.* und der 20jährige Ahmet M. sollen nach ihren Aussagen damals versucht haben, einen Kaufhausdetektiv von Bremer Geschäften in der Innenstadt über das Geländer des Restaurants Marché zu schmeißen. Vorher hatten sie auf den jungen Mann eingeprügelt. Richter und Staatsanwalt haben den Zeugen ihre widersprüchliche Geschichte gestern jedoch nicht geglaubt. Richter Fangk ließ den Anklagepunkt daher fallen und klagt die mutmaßlichen Täter jetzt nur noch wegen gefährlicher Körperverletzung in Form gemeinschaftlichen Handelns an.
In der vergangenen Woche hatte der Prozeß gegen die beiden jungen Männer wegen Körperverletzung in einem Fall und versuchten Totschlags in einem anderen Fall vor der Jugendkammer am Landgericht begonnen. Zugegeben hatten sie bereits, den Geschäftsführer des Restaurants geschlagen und getreten zu haben. Nach der Tat hatten sie sich noch in der Nähe des Marché aufgehalten. Der zufällig dort anwesende Detektiv P. sah sie weglaufen als die Polizei eintraf. Mit Pfiffen und Gesten machte er die Polizisten auf die Jungs aufmerksam, die er vom Sehen kannte. Die Polizisten faßten sie.
Zwei Tage später liefen Sait und Ahmed mit einigen Freunden wieder in der Bremer Innenstadt umher. Als sie P. mit seinem Kollegen D. auf der Straße sahen, muß die Wut über den Verpfiff bei der Polizei groß gewesen sein. Sie schlugen auf P. ein, der ins Marché lief. Soweit sind sich die Jugendlichen, der geschlagene P. und die Zeugen einig. Alles andere sind „viele verschiedene Filme“, wie Richter Fangk gestern klagte.
In P.'s verschiedenen Versionen vor Gericht kristallisierte sich heraus, daß zwei Jungen ihn an den Knöcheln gepackt haben, er mit dem Oberkörper über dem Geländer hing und „freie Sicht nach unten“ in das Untergeschoß hatte. Zwischen den Schlägen, einem „Kung-Fu-Sprung“ gegen seinen Oberkörper und dem vermeintlichen Vorfall am Geländer kann er sich an nicht allzuviel erinnern. Gesehen habe er auch nichts. „Für mich ist es logisch, daß Ahmed das war, weil der mich auch geschlagen hat“, sagt P. Hatte er im polizeilichen Protokoll noch von einem Gegenstand („vermutlich ein Totschläger“) gesprochen, konnte er sich vor Gericht auch an diese schmerzliche Einzelheit nicht mehr erinnern.
Sein Kollege und vermeintlicher Tatzeuge D. „kann eigentlich auch nicht genau sagen, wer es war“. Während P. angeblich mit dem Leben über dem Geländer gerungen hat, hinderte er andere Jugendliche am Eintritt ins Marché. Obwohl er mit dem Rücken zum Geschehen gestanden haben will, hat er gesehen, wie „ein kleiner Junge meinen Kollegen mit beiden Händen um die Knie faßte und hochhob“. D. erinnert sich so gut, daß er am Verteidiger den festen Griff vorführen kann. Oberhalb der Knie packt D. zu. Ungefähr 30 Zentimeter habe der Junge P. hochgehoben, bis ein Kunde des Restaurants eingriff.
Zum Glück von P. hielt sich ein weiterer Detektiv im Marché auf. R. „hatte im Gefühl, daß da was nicht stimmt“, als er P. und die „Araber“ ins Marché laufen sah. Er kann zwar vor Gericht „nicht mehr sagen wie das im einzelnen war“, weiß auch nicht mehr, ob er sich der Polizei als Zeuge gemeldet hat, was er nach dem Vorfall getan hat, oder wie es eigentlich zu seiner Aussage bei der Polizei gekommen ist. Aber eins weiß er sicher: „Daß Ahmed versucht hat, P. rücklings über das Geländer zu schmeißen“. P. glaubte eine Stunde vorher noch, daß er bäuchlings runterfliegen sollte. R. variiert dann auch den Rücken zur Seite. „Genau in der Mitte“, meint Richter Fangk.
Je weiter Richter, Staatsanwalt und die AnwältInnen fragen, desto mehr verheddern sich die drei Zeugen in der Geländergeschichte. Die Polizeiprotokolle widersprechen den Aussagen teilweise erheblich. „Ich habe den bei der Polizei angezeigt, weil die mich danach gefragt haben“, sagt R. Außerdem habe er sich geärgert, daß die Jungen einen Tag nach ihrer Festnahme im August wieder frei waren. Der zuständige Jugendrichter hatte damals keinen Haftbefehl gegen Ahmed und Sait ausgestellt. „Wir nehmen die Leute fest, und zwei Minuten später laufen die uns wieder vor der Nase rum. Da fühlt man sich doch frustriert“, sagt R. Und dann haben sich die Detektive wohl mit der unter öffentlichem Druck stehenden EG 12 verbündet. Ahmets Verteidiger geht nach den vorliegenden Fakten davon aus, daß es „ ein Ermittlungsverfahren gegen die EG 12 und die Detektive ergeben wird, daß sie gemeinsam versucht haben, aus einer Körperverletzung einen Totschlag zu machen“. ufo
* Alle Namen geändert
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