: Der Ultraman
Horst Preisler (59) ist 116.765,199 Kilometer gerannt ■ Von Bernd Müllender
Nach fast drei Stunden Plaudern über die Schönheit des Marathons, den Enthusiasmus über die absonderlichsten Ultraläufe, den selbstfolternden Charme von 24-Stunden-Jogging und noch weit Schlimmerem erzählt Horst Preisler von seinen Arbeitskollegen. „Ja, die sagen schon mal: Der Horst spinnt. Oder sie sagen: Mal sehen, wann der in den Seilen hängt oder sich verletzt.“ Das ist der Moment für die entscheidende Frage: Ob er nicht vielleicht doch, irgendwo, irgendwie, Entschuldigung: eine Art Macke habe? Die Frage scheint Preisler fast zu beleidigen: „Ja natürlich habe ich eine Macke, einen Knall. Das ist doch ganz klar.“ Sicher, stimmt er zu, neigten Ultraläufer zur Selbstbeweihräucherung und seien Exhibitionisten. „Aber was soll's?“
Ja, was auch! Laufen macht doch Spaß. Und viel Laufen macht viel Spaß. Horst Preisler (59), Personalchef eines Hamburger Unfallkrankenhauses, läuft extrem viel. Fünfmal die Woche, manchmal schon morgens um halb sechs vor der Arbeit, jeweils knapp 20 Kilometer. Dazu an jedem Wochende ein bis zwei Trainings- Marathons. Und dann natürlich die Wettkämpfe: Für die Laufstrecke Marathon (42,195 Kilometer) und länger stehen momentan 530 bei Preisler zu Buche.
Ein Besessener, der möglicherweise schon durch seinen Laufstall gejoggt ist? Nein, bis er 38 war, sagt Preisler, kannte er nur das Wandern. „Im Laufschritt wäre ich kaum bis zur nächsten Ecke gekommen.“ Doch dann, 1974, habe seine Frau gemeint, er habe „zuviel faules Fleisch um die Hüften. Sie hat mich gewissermaßen symbolisch rausgejagt.“ Preisler kam beim ersten Volkslauf über 20 Kilometer durch.
Der zweite Wettkampf waren schon 100 Kilometer. „Da habe ich vorher gerechnet: Beim Wandern schafft man fünf Kilometer pro Stunde; 24 Stunden war das Zeitlimit – also kein Problem. In 15:48 war ich im Ziel.“ Heute reist Preisler laufend um den Globus. Volle zehn Meter Aktenordner dokumentieren seine Schritte akribisch, Titel: „Horst Preisler auf den Straßen der Welt.“ 27 Länder sind zusammengekommen – Westeuropa, Südafrika, USA, Kanada, Barbados, Israel, Rußland, Polen. Die 530 Wettkampf-Langstrecken bedeuten Platz 2 in der ewigen Weltbestenliste knapp hinter dem US- Amerikaner Frank Norm. Aber der ist schon 63 Jahre und läuft durchschnittlich weniger Wettkämpfe. Preisler holt also auf. „Ein reizvolles Fernduell“ nennt er die Kilometerfresserei Richtung Pole- position. Aber besonders wichtig sei es ihm nicht.
Wichtig sei das Reisen. „Das ist Leben – und immer voller Überraschungen.“ Und dann schwärmt er und holt aus seinen Lebensakten Fotos und Dokumente ohne Unterlaß. „Hier, Barcelona. Das war toll. Was ich da für rührende Szenen erlebt habe.“ Oder der Honolulu-Marathon. „Diese Hitze. Alle hatten nur eine Sehnsucht: Wasser, Wasser. Unter der Dusche direkt hinter der Zielgasse waren für einen Moment alle Menschen wirklich gleich.“ Und hier, Sparta, die 245 Kilometer. „Das habe ich als einziger Deutscher viermal geschafft“ – nur vergangenes Jahr, wie ärgerlich, mußte er aufgeben.
Über alles liebt Preisler den London-Marathon. „Das ist ein Volksfest, fast wie Karneval. Überall riesige Transparente, Remmidemmi, Anfeuerung – ,Lauf zu, am Ende wird getanzt‘ –, ein Frauenchor am Straßenrand – ,It's a long way to Tipperary‘ –, das geht völlig unter die Haut.“
20 Jahre haben bei Horst Preisler jedes Gramm Fett weggebrannt. Ausgemergelt haben sie ihn nicht: Freundliche, warme Augen lachen einen an, offen wirkt er und fast bescheiden, etwas knorrig vielleicht. Persönliche Bestzeiten (Marathon 2:54 Stunden) läuft man mit fast 60 Jahren ohnehin nicht mehr. Heute braucht Preisler meist gemütliche dreieinhalb Stunden, eine Zeit, die noch so manchen halb so alten Hobbyläufer neidisch macht. Wie lange das alles noch geht?
Preisler berichtet von über 80jährigen, die auch noch ins Ziel kämen. Wenn nichts dazwischenkommt, kein Zweifel, wird er auch mal so einer sein. Und da ist nichts von der sprichwörtlichen Einsamkeit des Langstreckenläufers. „Manche sehen nur den Bordstein. Das ist doch furchtbar.“ Und das Schlimmste: „Wenn manche im Wortsinn mit Schaum vor dem Mund ins Ziel kommen. Das hasse ich. Ich sehe mir dabei die Natur an, die Häuser, ich beobachte die Menschen.“
Ein „hochsensibler Mensch“ sei er, sagt Preisler, „sehr von Schwankungen abhängig. Da erlebe ich in 24 Stunden meine ganze Persönlichkeit. Laufen ist wie eine Begegnung mit mir selbst. Da ist Ehrfurcht, Niedergeschlagenheit, Euphorie und die Sehnsucht nach anderen Menschen, nach der Massage hinterher, nach Streicheleinheiten.“ Und Preisler schätzt „Gespräche, Begegnungen, Freundschaften schließen.“ So was sei ihm wichtig. Er sei, sagt er, „ein sehr politischer Mensch.“
Gerade ist eine Einladung nach Chile gekommen, Santiago-Marathon. „Fünf Tage mit Privatunterkunft. Und Südamerika ist neu. Land und Leute kennenlernen, ganz nah, das berührt mich.“ Und dann komme sein Freund Don aus den USA zum Hamburg-Marathon. „Den habe ich mal bei zwei Wochenend-Marathons in Florida kennengelernt und neulich in der Arktis wiedergetroffen.“ Was – beim Eis- Laufen? Nein, „bei so einem Doppeldecker, also einem Doppelmarathon. Letzten Sommer war das, in Nanisivik, Kanada, 1.600 Kilometer vom nächsten Baum entfernt.“ Die Fotos zeigen eine mörderische Einsamkeit.
Preislers Ehefrau fährt nie mit. Mit ihr, sagt der Ultralaufmann, fährt er höchstens mal gemeinsam ins Sauerland. Und dann erzählt Preisler noch von 1993, La Rochelle. „Ein Riesenspektakel: Sechstagelauf in der Halle, 200-Meter-Betonbahn. Da hab' ich gelernt, auch mit zwei Stunden Schlaf zwischendurch kannst du was leisten. So eine Erfahrung hilft bei allen möglichen unangenehmen Situationen im Leben, wo du schon aufgeben willst: Du weißt, du kannst dein Ziel erreichen.“ 661,2 Kilometer schaffte Preisler. Alle sechs Stunden wurde die Laufrichtung gewechselt, damit die Teilnehmer keinen psychischen Drehwurm kriegen.
„Wissen Sie“ sagt Horst Preisler und holt die definitive Statistik seines Lebens heraus, „ich bin ja auch Bürokrat und habe von Anfang an alle Trainingsläufe und Wettkämpfe genau aufgeschrieben: Heute bin ich, hier steht's, bei 116.765,199 Kilometern.“ Und damit sind wir beim kurzfristigen Ziel: „In diesem Jahr“, sagt der Ultraman gelassen, „mach' ich erst mal die dritte Erdumrundung voll.“
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