Gleichschritt ausgeschlossen

■ Von der Wiederbelebung eines Spielorts: Das Amici Dance Theatre in der AdK

Hier war es, wo sich die internationale Tanzavantgarde von internationalem Rang erstmals in Berlin präsentierte, von hier gingen die ersten Impulse zur Durchsetzung einer Tanzmoderne in der Mauerstadt aus. Die Rede ist von der Akademie der Künste (West) und ihrer 1973 gegründeten internationalen Gastspielreihe „Pantomime- Musik-Tanz-Theater“. Jedes Frühjahr, parallel zum renommierten Theatertreffen, wollte man Avantgardekunst in die Stadt holen. Der Weg zum Publikum war lang, aber in den Achtzigern standen die Menschen schließlich Schlange, um Choreographen wie den US-Amerikaner Bill T. Jones oder das britische Enfant terrible Michael Clark zu sehen. 1989, kurz vor der Wende also, war das Festival erstmals so ausverkauft, wie es sich gehört: Schon am U-Bahnhof Hansaplatz sprachen einen die ersten Kartensuchenden an.

Wer heute an modernen Tanz in Berlin denkt, dem fällt sofort das Hebbel Theater und das Theater am Halleschen Ufer ein – die Akademie der Künste sicher nicht. Die Gastspielreihe befindet sich seit Jahren in einer Krise; das Publikum bröckelt immer weiter. Woran das liegt? Schwer zu sagen. Sicher hat der Leiter, Dirk Scheper, bei seiner Auswahl, aber vor allen Dingen auch bei der Promotion nicht immer eine glückliche Hand bewiesen. Nele Hertling, die die Gastspielreihe mit ins Leben gerufen hatte und seit mittlerweile sieben Jahren das Hebbel Theater leitet, hatte da mehr Fortune.

Aber der ratlose Blick auf leere Plätze soll jetzt auch an der Akademie ein Ende haben. Man hat sich noch nicht zu einer Änderung des altmodischen Namens der Gastspielreihe, wohl aber zu einer Neu- Orientierung und Umstrukturierung entschieden und scheint damit prompt Erfolg zu haben. Ab diesem Jahr ist das Festival kein Festival mehr: Die Gastspiele werden über das ganze Jahr verteilt, und nicht nur die Form, auch der Inhalt wird ein anderer.

Zwar soll die „hohe“ Kunst weiterhin Platz haben auf der Bühne der Akademie – aber auch sehr viel lebensnähere Ausdrucksformen auf einer sehr viel lebenspraktischeren Ebene auseinandersetzen. Bestes Beispiel dafür ist das zur Zeit mit „Rückblick“, einem Tanzdrama über Leben und Werk von Käthe Kollwitz, gastierende Amici Dance Theatre aus London. Die vierzig Mitglieder starke Gruppe umfaßt blinde, geistig behinderte, körperlich behinderte und nicht behinderte Darsteller. Gemeinsam mit dem Leiter und Choreographen Wolfgang Stange haben sie ein ungewöhnliches, an dem Ausdruckstanz der zwanziger Jahre orientiertes Stück erarbeitet.

Der Tod ist der Hauptakteur in dieser Erinnerung an einzelne Lebensetappen der Graphikerin und Bildhauerin. Gleich fünf Mal steht er auf der Bühne, und wer könnte den Tod überzeugender spielen als ein schwer Behinderter, dem die Zunge unkontrolliert durch den Raum flattert und dessen Ausdrucksmittel sich darauf reduzieren, mit den Armen zu rudern oder es bleibenzulassen. Von Helfern im Rollstuhl durch den Raum gefahren oder von vielen Händen durch die Luft getragen, ist er Meister des Geschehens, sein Sprachrohr ein Blinder.

Sicher hat „Rückblick“ einige dramaturgische Schwächen, für die Darstellerin der Käthe Kollwitz hätte man sich eine professionellere Tänzerin und überhaupt mehr Raum für den Tanz der Nicht-Behinderten gewünscht – der erst dann eine wirkliche Symbiose mit den Ausdrucksformen der Behinderten eingehen kann, wenn er nicht zurückgenommen wird. Aber „Rückblick“ ist kraft seiner Darsteller ein bis zum letzten Moment zutiefst anrührendes Theater-Ereignis und hinterläßt unter anderem die Erkenntnis, daß Mongoloide über enorme komödiantische Talente verfügen, zu spielerischen Synchron-Bewegungen in der Lage sind, nicht aber zu militärischem Gleichschritt. Michaela Schlagenwerth

Noch bis 23. 4., 20 Uhr. Akademie der Künste, Hanseatenweg, Tiergarten