: Angehörige warteten stundenlang am „Alfred P. Murrah Building“, Feuerwehrleute brachen in Weinkrämpfe aus. Wer die Autobombe von Oklahoma City gelegt hat, ist unklar. Sicher ist aber, daß er den Schrecken mitten ins durchschnittliche und alltägliche Amerika tragen wollte. Der Anschlag forderte wahrscheinlich über hundert Tote Aus Washington Andrea Böhm
Terror in der „small town“
„Mein Gott, doch nicht hier in Oklahoma City!“ – Dieser Ausruf der Fassungslosigkeit ist seit Mittwoch morgen immer wieder zu hören, ob von Augenzeugen vor Ort oder Fernsehzuschauern aus anderen Ecken des Landes. Aber es war in Oklahoma City, in der „Cowtown“, der Provinzstadt nahe der geographischen Mitte der USA, die mit dem Slogan „Home of Vince Gill“ an ihrem Stadttor wirbt – Gill ist ein Countrysänger. „Terror in the Heartland“, im Herzen der USA, hieß das Logo der Berichterstattung von CNN.
Gegen 9 Uhr morgens (Ortszeit) hatte am Mittwoch die gewaltige Autobombe die gesamte Fassade des „Alfred P. Murrah Building“ an der 5. Straße in der Innenstadt von Oklahoma City weggerissen. Von dem neunstöckigen Büroquader aus Glas und Stahl ist ein Skelett übriggeblieben, aus dem nun Leitungen, Deckenträger und Zimmerwände baumeln – als hätte jemand eine gigantische Abrißbirne gegen die Front gedonnert. Mehrere Stockwerke, so ein Helfer vor Ort, „hat's zu Pfannkuchen zusammengedrückt“. Ursache: eine Bombe mit tausend Pfund Sprengkraft, versteckt in einem Auto, das kurz zuvor vor dem Eingang abgestellt worden war.
Um diese Zeit waren die im Gebäude untergebrachten Büros verschiedener Bundesbehörden, darunter des Secret Service, der Anti-Drogen-Behörde DEA, der Bundesverwaltung für Kriegsveteranen und der U.S. Air Force, bereits besetzt – ebenso eine Kindertagesstätte im zweiten Stock. Mindestens zwölf der Kleinkinder im Alter von sechs Monaten bis sieben Jahre sind tot – manche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Dreißig Kinder wurden bei Redaktionsschluß noch vermißt.
Ihre Spielzimmer lagen direkt über der Einfahrt, in der das Bombenauto geparkt worden war.
Insgesamt 550 Menschen haben sich nach Polizeiangaben zum Zeitpunkt der Detonation im Gebäude aufgehalten. Rettungsmannschaften suchen unter den Trümmern. Mindestens sechs Menschen konnten bis gestern morgen lebend geborgen werden. Drei von ihnen sollen inzwischen aber gestorben sein. Gleichzeitig stieg die Zahl der Toten unaufhaltsam: erst 8, dann 11, dann 18, 26, 31, 36... Rund 200 Menschen liegen in den Trümmern. Das wahre Ausmaß konnte bereits erahnen, wer die Feuerwehrleute beobachtete, die nach ersten Rettungsaktionen in Weinkrämpfe ausbrachen. Sie mußten immer wieder über Leichen steigen, um zu Überlebenden vorzudringen. Die Zahl der Toten, wird aller Voraussicht nach weit über hundert liegen.
Die umliegenden Straßen des „Murrah-Gebäudes“ glichen am Mittwoch einem Kriegslazarett; immer neue Opfer tauchten aus den rauchenden Trümmern auf, wurden von Sanitäts- und Feuerwehreinheiten notdürftig versorgt. Manche hatten verletzte Babies aus der Kindertagesstätte auf dem Arm, die sie auf dem Weg aus den Trümmern gefunden hatten. Andere liefen im Schockzustand den ersten Fernsehteams vor die Kameras – blutüberströmt, unfähig zu begreifen, was passiert war.
Eltern, die ihre Kinder gerade in der Tagesstätte abgesetzt hatten, waren nur wenige Häuserblocks entfernt von der Explosion überrascht worden und standen nun vor dem rauchenden Trümmerhaufen, unter dem ihre Kinder begraben waren. Ein Vater hielt einer Fernsehkamera das Foto seines sechs Monate alten Sohnes entgegen. „Er ist so verspielt“, stammelte der Mann. Die Eltern harrten wie viele andere die ganze Nacht aus, während sich Rettungsmannschaften in gleißendem Scheinwerferlicht vorsichtig einen Weg durch die Ruinen bahnten – immer in dem Risiko, weitere Teile des Gebäudes zum Einsturz zu bringen. Der Junge wird nach wie vor vermißt.
In einem Fall mußten Ärzte einer Überlebenden ein Bein amputieren, um sie aus den Trümmern zu befreien. Die Zwanzigjährige war unter einem riesigen Betonblock eingeklemmt und stand kurz vor einem tödlichen Kollaps. Ein Chirurg robbte sich an die Frau heran und mußte dem Opfer ohne Vollnarkose das rechte Bein unterhalb des Knies abtrennen.
Die Rettungsarbeiten wurden am Mittwoch abend nicht nur durch die drohende Einsturzgefahr, sondern auch durch einen Dauerregen behindert. Unmittelbar nach der Bombenexplosion am Mittwoch vormittag mußten Sanitäter und Feuerwehrleute ihre Bergungsaktionen mehrfach unterbrechen, weil immer wieder Gerüchte über weitere Bombenfunde auftauchten.
Die Detonation war nach Zeugenaussagen noch mehrere Kilometer vom „Alfred P. Murrah- Building“ entfernt zu spüren. Weitere sechs Gebäude in der Innenstadt wurden schwer beschädigt, zahlreiche Autos durch die Luft gewirbelt und in Brand gesetzt. Eine Achse des Bombenautos soll drei Häuserblocks entfernt gefunden worden sein.
Die Rettungsdienste der Stadt haben effizient gearbeitet – so effizient es bei einer Katastrophe diesen Ausmaßes geht. Umliegende Krankenhäuser waren in kürzester Zeit in Alarmbereitschaft und in der Lage, die rapide wachsende Zahl der Verletzten aufzunehmen. Lokale Bergungsmannschaften waren schnell vor Ort und sind inzwischen durch Expertenteams aus anderen Bundesstaaten verstärkt worden, die mit High-Tech- Ausrüstung unter den Trümmern nach dem kleinsten Lebenszeichen suchen.
Für die Herkunft und Identität des oder der Täter schien man sich am Mittwoch in Oklahoma City noch gar nicht so recht zu interessieren – zu sehr standen die Rettung von Opfern, die Einrichtung von Blutspendezentren, die Aufräumarbeiten in den umliegenden Straßen im Vordergrund. Doch eine Frage beschäftigte alle – vom Polizisten über den Bürgermeister bis zum Schaulustigen oder Angehörigen eines der Opfer: Warum ausgerechnet in Oklahoma City? Warum ausgerechnet in einer Stadt, die sich trotz ihrer fast 500.000 EinwohnerInnen immer noch als „small town“ begreift und für die New York City ebenso weit entfernt scheint wie der Nahe Osten? Warum in einer Stadt, wo es – im Gegensatz zum „World Trade Center“ in New York – nicht einmal architektonische Symbole der amerikanischen Weltmachtrolle gibt?
Wer immer den Anschlag verübt hat, eines hat er erreicht: das Gefühl der Sicherheit vor Terrorismus, das durch das Attentat auf das „World Trade Center“ in New York nur kurz ins Wanken geriet, ist endgültig zerstört. Nicht nur in Oklahoma City.
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