: Kein Attentat auf den NS-Kampfkommandanten oder: Bremens Karikatur von Widerstand
■ In den letzten Apriltagen des Jahres 1945 gab es in Bremen zwei, drei verantwortliche Männer, die den Nazi-Kampfkommandanten Becker zur Kapitulation bewegen wollten, um der Stadt das sinnlose Leiden zu ersparen - vergebens. Präses Bollmeyer stand einmal mit der Pistole in der Hand im Hause des NS-Generals in der Parkallee 95 - und ließ sich auf der Treppe aufhalten. Die Bevölkerung, lobte Bremens Polizeipräsident, „fristet ihr Dasein geduldig und durchaus nicht oppositionell in den Bunkern“
Auf dem Arbeitstisch des Leiters des Staatsarchivs, Hartmut Müller, liegt ein 7 Zentimeter dickes altes Buch: Sterberegister 1945, Standesamt Mitte. Hier sind die Toten der Zivilbevölkerung aus jenen Tagen verzeichnet, in denen Bremen einen sinnlosen Verteidigungskrieg gegen die vorrückenden englischen Truppen erlebte. Allein in der Woche vom 20.-27.4. sind hier für den Bereich Mitte 275 Tote eingetragen, in ordentlicher Handschrift: Name, Alter, wie und wo sie gefunden wurden.
Um die bremische Bevölkerung mürbe zu machen, flog die englische Luftwaffe schwere Luftangriffe - aber die Bevölkerung wurde nicht mürbe. „Die Bevölkerung fristet ihr Dasein geduldig und durchaus nicht oppositionell in den Bunkern“, schrieb der damalige NS-Polizeipräsident General Schroers fast ankennend in seinem Bericht über diese Tage.
Von Widerstand gegen das sinnlose Sterben - keine Spur. Bis auf ...
die Geschichte von dem halbherzigen und dann vereitelten Versuch, den Nazi-General Becker zu ermorden.
Beinahe wäre es dann doch passiert. Am 23.April 1945, der Gefechtslärm von den schweren Kämpfen bei Uphusen, Bassen und Oyten war in der Stadt gut zu hören, da ließ sich der Präses der Handelskammer, Bollmeyer, im Milchwagen des ihm befreundeten Großbauern aus Horn-Lehe, Bölken, in die Parkallee 95 fahren, wo sich der NS-Kampfgeneral Fritz Becker in der ersten Etage der Villa des AG-Weser-Chefs und NS-„Wirtschaftsführers“ Franz Stapelfeldt einquartiert hatte. Bollmeyer, seit 1933 selbst NSDAP-Mitglied, trug eine Pistole bei sich. Er hat selbst aufgeschrieben, was dann passierte: „Vor dem Hause Stapelfeldt war eine Mine explodiert. Herr Bölken und ich bemerkten, daß Herr Becker sein Gepäck aus dem Hause herausholen ließ, um sich und sein Gepäck in Gefechtsbunker (im Bürgerpark, schräg gegenüber sozusagen, Red.) unterzubringen. Ich ging in das Haus hinein und stürzte die Treppe hinauf, um Becker an den Kragen zu gehen. Frau Papen und andere kamen mir entgegen und versperrten mir, weil ich laut schimpfte, den Weg und baten mich, von meinem Vorhaben Abstand zu nehmen, um nicht die Bewohner des Hauses ins Unglück zu bringen. Ich ging daraufhin zurück auf die Straße und schrie, da ich ungeheuer aufgeregt war, mit lauter Stimme, sodaß der General es bei den offenen Fenstern hören mußte: Schlagt den General Becker tot! Der General aber zog es vor, nicht am Fenster zu erscheinen.“ Bollmeyer versteckte sich wieder in dem Milchwagen und ließ sich wegfahren.
Den sinnlosen Kampf beenden?
Bollmeyers skurril-verzweifelte Aktion war der Endpunkt einer Reihe von Gesprächen über die Frage, wie es möglich sei, den NS-Kampfkommandanten zu erschießen, um damit möglicherweise den sinnlosen Verteidigungskampf Bremens zu beenden und u.a. das Sprengen der Brücken zu vermeiden. Neben dem Präses der Handelskammer, Bollmeyer, bemühte sich vor allem auch Dr. Jule Eberhard Noltenius um die Kapitulation Bremens. Zunächst versuchten die beiden, den Kampfkommandanten selbst zu überzeugen. Zeitweise schien es so, als würde der Gauleiter Wegener selbst dem Gedanken an eine Kapitulation nicht so fern stehen. In der Senatssitzung am 21.4. wurde heftig auf ihn eingeredet - nach dem Ende der Sitzung verbreitet Wegener über Drahtfunk Durchhalte-Appelle.
Kampfkommandant Becker war aus Danzig, wo er genauso sinnlos die Verteidigung der Stadt organisiert hatte, im letzten Moment ausgeflogen und in Bremen als Kampfkommandant eingesetzt worden. Becker selbst hat später den Engländern berichtet, er sei in diesen Apriltagen einmal von führenden Wirtschaftlern Bremens eingeladen worden, die ihn aufs Beste bewirteten. Dann hätten sie mit der Bemerkung die Katze aus dem Sack gelassen: Na, General, ich glaube, da werden sie sich bald nach einem neuen Beruf unmsehen? Er, Becker, hätte zugestimmt, und darauf sei ihm angedeutet worden, er könne wohl in einer der am Tisch vertretenen Firmen untergebracht werden - vorausgesetzt, der Kampf würde nicht weiter fortgesetzt und Bremens Industrie nicht vollends zerstört. Daraufhin erkannte der General nach eigenen Worte, worum es ging, und verließ - „Heil Hitler“ - wütend den Raum...
„Der erste, der aufgrund seines Amtes berufen schien, in solcher Lage zu handeln“ - und von den Militärs die Kapitulation zu verlangen - „war Bürgermeister Duckwitz“, schrieb später Noltenius in seinem Bericht über jene Tage. „Bei den Besprechungen über den Aufbau einer Notverwaltung bot sich die Gelegenheit, Andeutungen nach dieser Richtung zu machen. Aber er verstand sie nicht oder wollte sie nicht verstehen und wich aus, wenn die Unterhaltung sich dieser Frage näherte. Herr Bollmeyer übernahm dann die Aufgabe, die eigentlich Herrn Duckwitz zugefallen wäre...“
Bürgermeister Duckwitz findet sich nicht zuständig
Bürgermeister Duckwitz selbst, der sich durch diese Bemerkungen angegriffen fühlte, rechtfertigte sich 1949 so: „Es ist richtig, daß Herr Bollmeyer und Sie (Noltenius) bei mir am 20. April spät abends in der Wohnung waren und forderten, daß ich Bremen übergeben solle. Ich war der Ansicht, daß nur der Bremen besetzt haltende Wehrmachtskommandant, nicht ich, eine solche Übergabe vornehmen könnte, denn ich konnte der Wehrmacht mangels Befehlsgewalt nicht befehlen, das Feuer einzustellen. Ebensowenig konnte der Polizeipräsident Schroers die Übergabe vornehmen...“ Bollmeyer berichtet später, daß Duckwitz ihn entgeistert gefragt habe: „Wollen Sie von mir verlangen, daß ich den General Becker über den Haufen schieße? Worauf Dr. Noltenius mit Ja antwortete. Dr. Duckwitz antwortete, daß man so etwas von ihm nicht erwarten könne und fragte, ob wir denn bereit sein würden, das zu tun. Wir bejahten dies. Daraufhin war Dr. Duckwitz so erregt, daß eine sehr gespannte Situation eintrat.“
Als Bollmeyer von dem Bremer Bürgermeister dann verlangte, er solle der Polizei befehlen, den NS-General umzubringen, weigert sich Duckwitz mit der Begründung, die Wehrmacht sei „durchaus nicht zur Meuterei geneigt“ und der Kampfkommandant würde wahrscheinlich sofort ersetzt, so daß ein Attentat sinnlos wäre. „Auch hätte es mir nicht gelegen, einen deutschen General ohne Richterspruch ermorden zu lassen, auch wenn ich sein Verhalten rechtfertige“, rechtfertigte sich Duckwitz noch 1949 rückblickend.
Anstelle einer Kapitulation: Polizeimeister Röper fährt zu den Engländern
Auch Polizeipräsident Schroers unterstützte die Bemühungen um die Vermeidung des unsinnigen Kampfes. Er hatte einen mutigen Polizeiwachtmeister gefunden, Röper, der bereit war, durch die Kampflinien zu den Engländern zu fahren und ihnen mitzuteilen, die bremische Bevölkerung wolle die Stadt kampflos übergeben und die militärische Verteidigung ruhe auf schwachen Füßen, weil wenig Munition vorhanden sei und die Infanterie so gut wie abgekämpft. Röper fuhr mit dem Motorrad am 21.4. los, tauschte in einem Bauernhaus seine Uniform gegen Zivil aus und konnte seinen Auftrag offenbar ausführen - schon mittags berichteten die englischen Nachrichten von der Bereitschaft der Bevölkerung zur kampflosen Aufgabe.
Ein Polizeiwachtmeister namens Wilkens hatte in diesen Tagen unanhängig von den Bemühungen von Bollmeyer und Noltenius den Plan gefaßt, mit 20-30 „handfesten Beamten des Generals Becker habhaft zu werden“, berichtet Bollmeyer. Der Polizeipräsident erfuhr davon und bat Wilkens zu einer Besprechung zu sich - und teilte als Ergebnis mit, „daß der Plan in der vorgenommenen Weise nicht durchzuführen sei“.
„Wegen aktiven Widerstands entlastet“
Am 25.4. sollte es noch einmal ein Treffen geben, auf dem die Männer zum Handeln schreiten wollten. Noltenius lud jedenfalls am Telefon dazu mit der Bemerkung ein, es werde „ein sehr starker Schnaps gereicht werden“, was man nur so interpretieren konnte. Mit dem Fahrrad wollte Bollmeyer zu dem vereinbarten Ort fahren - und mußte den Weg wegen des starken Beschusses abbrechen. Auch der Polizeichef drehte mit seinem Dienstwagen schnell ab - das Treffen fiel aus. Bollmeyer: „Am nächsten Morgen waren die Engländer bereits in Oberneuland, sodaß wir unseren Plan nicht mehr durchführen konnten.“
Vier Jahre danach hat es einen Briefwechsel zwischen den beteiligten Personen über diese Vorgänge gegeben, der einen Prozeß gegen den Gauleiter Wegener und eine Veröffentlichung in den Bremer Nachrichten zum Anlaß hatte. Duckwitz wehrte sich heftig gegen den ihm gegenüber erhobenen Vorwurf. Die Kreisleitung der NSDAP haben ihn sogar angezeigt, weil er die Möglichkeit einer kampflosen Übergabe angesprochen habe und seine „Vernichtung“ beantragt. „Daraus ergibt sich, wie rückhaltlos ich mich für Bremen eingesetzt habe. Im übrigen war der Sachverhalt Gegenstand der Prüfung durch die bremischen Spruch- und Berufungskammern, die mich durch drei Entscheidungen wegen aktiven Widerstands für politisch entlastet erklärten“.
Noltenius wollte die Frage, wer was für die kampflose Übergabe getan hat, 1949 nicht wieder aufrühren. „Die Tatsache als solche bleibt für uns alle ein Armutszeugnis“, schreibt er an Duckwitz, „Auch auf meinen eigenen bescheidenen Beitrag blicke ich nicht mit Selbstzufriedenheit, sondern nur mit Bitterkeit zurück.“
Bremer Nachrichten: Keine Namen nennen
Als im April 1950 die Bremer Nachrichten in einer Serie die letzten Tage des Krieges vor den Toren Bremens rein militärgeschichtlich berichteten, verschweigen sie dieses Kapitel der Debatten über die Kapitulation und die Gespräche über ein Attentat auf den Kampfkommandanten Becker: „Es würde zu weit führen“, so die Zeitung damals, „die zweifellos vorhandenen Verdienste vieler Männer unserer Stadt hier im Einzelnen aufzuzählen, die sich, teils unter Einsatz ihres Lebens, in jenen Tagen voll zur Verfügung gestellt haben. Andere wiederum standen in einem unausweichlichen Konflikt zwischen erhaltenen Befehlen und den Pflichten, die ihnen das Gewissen vorschrieb. Wir müssen es uns versagen“, schlossen die Bremer Nachrichten die Aktendeckel über dem unerfreulichen Kapitel, „hier einzelne Namen zu nennen...“
K.W.
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