: Lernen in der Praxis
■ Start des Reformstudiengangs Medizin im Wintersemester gefährdet / Fusion mit der Charit schuf neue Hürden
„Der geplante Beginn des Reformstudienganges Medizin an der Humboldt-Universität (HU) zum Wintersemester 1995/96 ist sehr gefährdet und objektiv betrachtet eher unwahrscheinlich.“ Walter Burger, Mitinitiator der Reformidee, dämpft die Hoffnungen auf eine schnelle Umsetzung des in der Bundesrepublik einzigartigen Modellstudiengangs.
Schuld an der Verzögerung sind nach Meinung des stellvertretenden Leiters der Arbeitsgruppe „Reformstudiengang Medizin“ nicht etwa inhaltliche Schwächen des geplanten Curriculums, sondern die Rechtsprechung. „Die Studienordnung in dem Fach Medizin ist durch die Approbationsordnung für Ärzte festgelegt und hat Gesetzescharakter. Daher kann sie nicht von jeder Fakultät beliebig verändert werden“, erklärt Dozent Burger. Eine Möglichkeit, den Studiengang alternativ zu etablieren, sei jedoch die sogenannte „Experimentierklausel“, die den Bundesländern erlaube, von der Approbationsordnung abweichende Studien- und Prüfungsordnungen zu erlassen. „Doch Wissenschaftssenator Erhardt hat sich in der Sache bisher viel Zeit gelassen, und wir sind in Gefahr, am ausgestreckten Arm zu verhungern“, beklagt der Verantwortliche der Arbeitsgruppe.
Bereits im Streiksemester 1988/89 gründete sich die „Inhalts- AG“ an der Freien Universität (FU), die Alternativen zur bestehenden Medizinerausbildung suchte. Aus der studentischen Initiative heraus bildete sich am Universitätsklinikum Rudolf Virchow eine Planungsgruppe, die einen reformierten Studiengang ausarbeitete. Das Curriculum orientiert sich an den Erfahrungen anderer Reformuniversitäten wie Harvard sowie an den Empfehlungen des Wissenschaftsrats. Dieser forderte bereits im Juni 1992, theoretische und klinische Inhalte gemeinsam zu vermitteln, die Kommunikationsfähigkeit der StudentInnen und eigenständiges Lernen zu trainieren, sowie frühzeitige Patientenkontakte und eine praxisnahe Ausbildung.
In einem sechsjährigen, zweiphasig gegliederten Studium will der Berliner Modellversuch diese Forderungen integrieren. Vom ersten bis zum fünften Semester stehen Aufbau und Funktionen des Körpers im Mittelpunkt. In der zweiten Phase orientieren sich die Lerninhalte an den Abschnitten des Lebenszyklus. „Diese Einordnung hat zudem den Vorteil, daß die Inhalte in Form einer Lernspirale in verschiedenen Kombinationen immer wieder auftreten“, erläutert Walter Burger.
Statt der frontalen Studienvermittlung durch Vorlesungen soll das problemorientierte Lernen in Kleingruppen verstärktes Gewicht bekommmen. Ein Kreis von maximal acht Studenten erhält eine berufsnahe Problemstellung, bei der Lösungswege nicht vorgegeben, sondern selbst erarbeitet werden sollen.
Der Dozent soll lediglich als Moderator im Lernprozeß agieren. „Nicht nur Studenten, sondern auch die Dozenten müssen zu neuen Lehr- und Lernmethoden bereit sein“, appelliert Burger an seine Kollegen. In der Ausbildung sollen bevorzugt Krankheitsbilder besprochen werden, die häufig in Arztpraxen auftreten, deren Behandlung besonders dringend ist und die exemplarisch für das Verständnis grundlegender Zusammenhänge sind. Um frühzeitig Praxisluft zu schnuppern, sollen die Studenten einmal pro Woche bei einem niedergelassenen Arzt hospitieren.
„Berlin könnte mit diesem international anerkannten Modellstudiengang die Vorreiterrolle für europäische Reformuniversitäten einnehmen, doch wir brauchen die politische Unterstützung des Senats“, fordert Walter Burger. Denn finanziell wird es für die Arbeitsgruppe langsam eng. Nur noch bis Juni dieses Jahres ist ihr Engagement unter anderem durch die Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung garantiert.
Die Zusammenlegung des Rudolf-Virchow-Klinikums mit der Charité schuf neue bürokratische Hürden, denn plötzlich ist der Reformstudiengang der HU zugeordnet. „Durch die Zusammenlegung müssen wir die Gremien der HU fragen, ob sie mit dem Curriculum einverstanden sind“, erklärt Maria Behring, Pressesprecherin des Wissenschaftssenators. „Das überarbeitete Curriculum haben wir dem Wissenschaftsrat zur Stellungnahme gegeben und warten das Ergebnis noch ab, bevor wir tätig werden“, ergänzt sie. Walter Burger befürchtet: „Die ersten 63 Studenten werden wohl erst im Wintersemester 1996/97 in den Genuß des reformierten Studienganges kommen.“ Hella Kloss
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