: Studierende als Grenzgänger
Bundesweit wenig Interesse an einem Studium im anderen Teil Deutschlands / In Berlin vermischen sich die studentischen Milieus längst ■ Von Ralph Bollmann
Zu Semesterbeginn setzte Hartmut Schiedermair zu einer Studierendenschelte an. Es sei „widersinnig“, so der Präsident des Deutschen Hochschulverbands (DHV), daß einerseits über die Überfüllung der westdeutschen Hochschulen geklagt werde, während andererseits „an ostdeutschen Universitäten die Studierenden mit ihrem Professor noch zu Mittag essen können“. Eine im Februar veröffentlichte Studie des Hochschul- Informations-Systems (HIS) in Hannover scheint Schiedermairs Polemik zu bestätigen. Demnach haben sich im Wintersemester 1993/94 nur fünf Prozent der Studienanfänger aus Ost und West für eine Hochschule im jeweils anderen Teil Deutschlands entschieden. Nur jeder dreißigste Westdeutsche begann sein Studium im Osten, umgekehrt zog es immerhin jeden siebten Ostdeutschen gen Westen.
Auf das altneue Bundesland Berlin lassen sich die Ergebnisse der Studie freilich nur begrenzt übertragen. Nicht nur auf dem Prenzlauer Berg, auch an den Unis mischen sich die studentischen Milieus aus Ost und West. Spitzenreiter ist die Humboldt-Universität. Genaue Zahlen lassen sich aber nicht angeben, weil das dortige Studentensekretariat die Studierenden nur noch nach Bundesländern, aber nicht mehr nach den beiden Stadthälften getrennt erfaßt. Dreißig Prozent dürften es mindestens sein, die Tendenz ist weiterhin steigend.
Die Uni-Bürokratien hinken hinterher
Was viele Studierende bereits täglich praktizieren, vollziehen die Uni-Bürokratien erst allmählich nach. Schon zu Westberliner Zeiten gab es die Möglichkeit, an mehreren Unis zugleich zu studieren. Sie wird jedoch sehr viel häufiger genutzt, seit die Humboldt-Universität hinzugekommen ist, deren Fächerspektrum sich mit dem der FU zum großen Teil deckt. Doch die Richtlinien, mit welchem Status Studierende anderer Hochschulen an Lehrveranstaltungen teilnehmen und wie sie sich die dort erworbenen Scheine anrechnen lassen können, waren bislang von Uni zu Uni verschieden. Das soll nun anders werden.
Vergangenen Dezember verabschiedete die Landeskonferenz der Rektoren und Präsidenten „Einheitliche Grundsätze“ für die Behandlung der Grenzgänger. Sie müssen aber noch von den universitären Gremien beschlossen werden. In Lehramts- oder Magisterstudiengängen können Studierende sich dann für die einzelnen
Fächer an verschiedenen Berliner Hochschulen einschreiben. Sie bezahlen nur an einer Uni den Semesterbeitrag und sind auch nur dort wahlberechtigt, haben aber ansonsten an beiden Hochschulen die vollen Rechte. Für ein und dasselbe Fach kann man aber nur an einer Hochschule eingeschrieben sein.
Wer dagegen nur an einzelnen Lehrveranstaltungen einer anderen Hochschule teilnehmen möchte, kann sich dort als Nebenhörer einschreiben. An den meisten Vorlesungen und Seminaren kann man auch ohne Nebenhörerstatus teilnehmen, dann kann es aber Probleme bei der Anerkennung geben.
Nach der Vereinbarung der Berliner Uni-Chefs sind alle Leistungsnachweise von der anderen Uni „anzuerkennen und anzurechnen“. Problemlos anerkannt werden Zwischenprüfung oder Vordiplom des gleichen Studiengangs, so die Erfahrung von Traugott Klose, dem für Lehre, Studium und Weiterbildung zuständigen Abteilungsleiter in der FU-Verwaltung.
Die Höhe des Bafög richtet sich nach der Uni
Schwieriger wird es, wenn sich die Bezeichnung des Studiengangs geringfügig ändert, etwa von „Anglistik/Englische Philologie“ an der FU zu „Englische und amerikanische Literaturwissenschaft“ an der TU. Dann prüft der Fachbereich die Gleichwertigkeit der erbrachten Leistungen. Auch einzelne Scheine müssen nach der neuen Richtlinie anerkannt werden. Kloses Extrembeispiel: „Man kann sich theoretisch auch mit lauter Scheinen von anderen Unis zur Prüfung anmelden.“ In der Praxis erwarten die Prüfer in der Regel, daß die Studierenden schon einmal ein Seminar bei ihnen besucht haben. Formal reicht es aber aus, daß der Kandidat mindestens zwei Semester an der betreffenden Uni eingeschrieben war. Zum Zeitpunkt der Prüfung kann er bereits exmatrikuliert sein.
Geteilt ist Berlin auch noch beim Bafög. Der Grundbedarf ist zwar mit 570 Mark in beiden Stadthälften gleich hoch, aber der Wohnkostenanteil und die Krankenkassenpauschale unterscheiden sich noch. Für Studierende, die nicht bei ihren Eltern wohnen, kann das je nach Höhe der Miete einen Unterschied von bis zu 155 Mark monatlich ausmachen. Wieviel Geld einem Bafög-Empfänger zusteht, richtet sich nicht nach dem Wohnort, sondern nach der Hochschule. Der zuständige Abteilungsleiter im Amt für Ausbildungsförderung, Dieter Alberts, weist aber auf einige Sonderfälle hin. Wenn beispielsweise ein Wilmersdorfer, der zuvor an der FU studiert hat, durch die Fusions seines Fachbereichs an die HU kommt, behält er den Anspruch auf West-Bafög. Seinem Kommilitonen dagegen, der an der Schönhauser Allee wohnt, wird die Ausbildungsförderung in diesem Fall gekürzt. Freilich hielte Alberts es für wenig sinnvoll, wenn sich Studierende bei der Entscheidung für einen Fachbereich von der Höhe des Bafög leiten ließen – zumal sich ohnehin eine weitere Angleichung der Sätze abzeichnet.
Immerhin scheint auch die BVG allmählich zu merken, daß in den vergangen fünf Jahren einige Studis aus dem Westen in die östlichen Bezirke gezogen sind. Da sie mangels blauem DDR-Ausweis keinen Anspruch auf eine Studi- Karte zum ermäßigten Osttarif haben, mußten sie lange Zeit in den Westen fahren, um ein Jahresabo zu beantragen. Inzwischen, so versicherte BVG-Sprecher Klaus Wazlak der taz, halten „zumindest die großen Verkaufsstellen“ die entsprechenden Formulare bereit.
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